Loddel, prüde   Pierrot wischte sich die Stirn ab, denn es war eine Heidenarbeit; um so mehr, als einige Bienen darunter waren, deren fleischliche Reize ganz schon ins Gewicht fielen; und dabei hatte er, Pierrot, nicht das geringste davon, weil er zum einen allzu sehr von seinen Transportgeschäften in Anspruch genommen wurde, und weil ihn zum andern die Einschränkung des Blickfeldes daran hinderte, die am Ausgang der Tonne entschleierten Schönheiten voll zu genießen.

Unterdessen hatten Petit-Pouce und Paradis, die vor der Tür herumschrien, eine neue Gruppe Juxlüsterner zusammengetrommelt. Eine neue Sitzung begann. Die Philosophen (jene, die sich auch für Kreuzworträtsel begeisterten) falteten ihre Zeitungen zusammen, rutschten unruhig auf ihren Sitzen hin und her und schickten sich friedfertig an, ein Auge zu riskieren. Und von neuem packten Pierrot und Petit-Pouce, der eine hier, der andere dort, unsanft Damen an, die sich wehrten und mit den Beinen strampelten, gedemütigt und beklatscht. Pierrot hatte allmählich den Dreh raus und tat seine neue Arbeit ganz mechanisch. Los, komm schon her, kleine Blonde, und er dachte an seinen Vater, der tot war, ein guter Kerl, der zwar soff, aber im Rausch heiter wurde, und der sich mit der Suppe materialisierte, deren Dampf sich zu einem menschlichen Gesicht zu kondensieren schien. Na, komm schon, große Schwarze, und er dachte an seine Mutter, ebenfalls tot, die ihm so viele Kopfnüsse verpaßt hatte, daß er heute noch die Beulen spürte, wie er glaubte. Noch eine kleine Blonde, noch eine Schwarze, und dann eine Alte, und jetzt ein kleines Mädchen. Und er fuhr fort, an jene fernen Tage zu denken, von denen nur noch Erinnerungslappen übrig waren; vielleicht dachte er ganz zufällig daran an diesem Abend, vielleicht aber auch wegen seinem neuen Beruf, der, wer weiß, ein neues Leben einleiten wurde, und als er diese Fetzen aufschüttelte, kamen ganze Geschwader blasser und torkelnder Schmetterlinge daraus hervor und flogen davon.

Nun komm schon, große Schwarze, daß ich dich greife, und er dachte, daß es nicht lustig sei, eine Kindheit wie die seine gehabt zu haben, das hält sich schlecht, das verschimmelt, und die schönen Stücke, in denen man sich ganz lieb und voller Hoffnung wiedererkennen könnte, werden auf immer vom Rest getrübt und befleckt.

- He du, Knabe. Runter mit den Pfoten, aber dalli dalli. Pierrot ließ die letzten Motten davonfliegen und bemerkte einen drohenden Kerl, der unbestreitbar ein Strizzi war. Er fürchtete die Gefahr nicht, sein Berufsethos war nicht zu erschüttern. Trotz des Zuhälters Veto wollte er das Dämchen mitziehen. Sie leistete Widerstand. Die Menge begann zu murren. Pierrot ließ nicht locker, mühte sich ab, siegte: die Hure mußte ihm folgen.

Der Beifall war groß. Aber die Enttäuschung sollte noch größer werden. Der Louis, der dicht hinter der Frau geblieben war, hielt ihr mit beiden Händen die Rocke fest, wodurch die Wirkung des Luftstroms zunichte gemacht wurde. Ein empörtes, einstimmiges Geschrei brach los.

- Hahnrei! heulte ein Philosoph.

- Hahnrei! Hahnrei! wiederholte der Saal.

- Man darf sich jetzt wohl nicht mehr amüsieren, sagte ein sehr anständiger Herr.

Hinter dem Moralisten und seiner Stritze kam ein anderes Paar vom gleichen Kaliber. Der zweite Beschützer machte es natürlich seinem Amigo nach. Die zweimal um ihr Vergnügen geprellten Philosophen fingen an zu maulen, und die beiden Lotterbuben, ihre Gegner herausfordernd, setzten ihren Weg fort. Die von Gruppe zu Gruppe geschleuderten Beleidigungen nahmen bei jeder Replik sowohl an Heftigkeit als auch an Obszönität zu. Die einen wie die ändern beriefen sich dabei auf die wichtigsten physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers sowie auf die verschiedenen Organe zwischen Knie und Gürtellinie. Gebärden gaben diesen durch häufigen Gebrauch verschlissenen Worten neue Kraft. Als die Quadrille die Tonne erreichte, trampelte man mit den Füßen. Die beiden Strizzis wollten ihre Fleischtöpfe nicht den Händen Paradis' ausliefern. Die Herren diskutierten heftig, während der Zylinder leer lief und die Sehleute heulend ihre Verachtung für eine Prüderie kundgaben, die an diesem Ort nicht angebracht war und vor allem nicht bei einer solch suspekten Sippschaft. -Misthaufen! Misthaufen! erklärten sie.    - Raymond Queneau, Mein Freund Pierrot. Frankfurt am Main 1964 (zuerst 1942)

Loddel Prüderie

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