Loch im Strumpf   »Aesj, wir wollen nicht hier liegen. Komm!« sagte Edgar Duus. Er legte den Arm um des Jüngeren Schultern. Sie schritten rasch aus. Sie kamen an ein Klippenfeld. Aufeinander gerüttelte Felsblöcke. Enge Höhlen zwischen den Steinen. Schlehndörner und Buschkiefern verbargen die Eingänge. Auf dem Bauche krochen sie in einen der unzugänglichsten hinein. Edgar voran, dann der Jüngere. Dunkelheit in der Höhle. Feucht. Sie fanden Platz neben einander, liegend. Sie berührten einander. Der Altere reichte dem Jüngeren sturnm sein Dolchmesser. Packte ihn bei den Armen, verschränkte seine Beine um ihn, wuchtete ihn über sich. Heißer Atem der zwei mischte sich.

»Töte mich, töte mich«, sagte der Jüngere.

»Nein, du sollst mich toten. Ich kann nicht leben.« Er nahm des anderen Hand und jagte sie gegen seinen Hals. Ein warmer Blutstrahl spritzte'dem Jüngeren ins Angesicht und verklebte ihm die Augenlider. Er wollte sich erheben, doch schlug er mit dem Kopfe gegen den Felsen, sank zurück auf den Körper des Sterbenden. Er wagte nicht, allein zu bleiben. »Er wartet auf mich. Mein Freund.« Da fand das Messer den nackten Hals des Letzten. Es gab eine kalte Geistigkeit, die er meinte verabscheuen zu müssen. Sie erschien segensreicher für das Leben der Menschen als all das warme Blut, das sich helfend vergießen wollte. Daneben das Mißverständnis, das die Menschen gegeneinander trieb. Schier unfaßbar war seine Macht, so irreparabel seine Schädigung. Diese Saat, die aufging: Mißtrauen, Verschweigen, Befangenheit. Die Tränen nach der Lektüre eines Buches konnte er niemals auf einfachen Grund zurückführen. Vergebens der Versuch, seinen Antrag und seinen Widerspruch zu formulieren. Die Tatsachen entwaffneten ihn.

»Ich erkannte und empfand Edgars Leib. Ein wunderliches Grausen durchrann mich. Das Bewußtsein meines eigenen Körpers erhob sich zum erstenmal in mir. Es war, als ob jenes Organ aufsproßte in der feuchten, frühlingssatten Erde. Und es war, als ob wilde Säfte in uns beiden gärten. Von modriger Erde, von saurem dengelnden Aprilgras, von den Harzknospen der Dornen. Ich erkannte nun auch sein Angesicht. Es erschien mir nicht mehr so spöttisch und raubvogelartig, es erschien mir schöner und stolzer. Sein Kinn leuchtete wie mattgoldene Bronze. In seinen Augen war wieder der bleiche Mondenschein.

Es kam seltsame Lust über mich, meinen Finger in das Loch seines zerrissenen Strumpfes zu stecken. Eine weiße behaarte Haut schimmerte hindurch. Ich setzte meinen Finger auf seine behaarte nackte Haut.

Ich hatte ein seltsames Gefühl. Mein Freund, Edgar William Duus war tot. Er wartete auf mich.«

Sie waren folgerichtig, wenn auch von abscheulicher Deutlichkeit, von beleidigender Strenge. Auf Sekunden dämmerte es in ihm, daß seine Tränen ihm selber gölten, einem Mitleid für sich selber entsprangen, weil ja sein Leben ungewiß vor ihm lag, kein Freund ihm anhing, keinem er selbst. Weil er hineingestoßen werden würde in die zertrümmernde Logik des Allgemeinen. - Dem jene entgangen waren. Gegen seine Tür würde, vielleicht nach Jahren erst, der Tod pochen. Bis es so weit gekommen, würde er Bitternisse kosten müssen, und sei es auch die eine nur, quälender einsamer Krankheit.

»Es kam seltsame Lust über mich, meinen Finger in das Loch seines zerrissenen Strumpfes zu stecken. Und so unausweichbar war jenes Leibes Macht für mich, daß ich mich neben ihm ausstreckte und mich auf des Toten Arm fallen ließ. Ich lag und dachte an al! unsere Spielplätze, an meine tote Mutter, deren ich mich nicht erinnern konnte. Und ich wagte nicht, länger allein zu sein.«    - Hans Henny Jahnn, Perrudja. Frankfurt am Main 1966 (zuerst 1929)

Loch Strumpf

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

 

VB

 

Synonyme