iteraturkritiker  Der Literaturkritiker Berlo Zenobi ist eine Masse von Würmern, ein Haufen von nicht genauer zu beschreibender Form, obwohl zu vermuten ist, daß irgendeine tragfähige Struktur in seinem Innern vorhanden sein muß, was sollte sonst alle diese Würmer zusammenhalten? Deren Natur ist bekanntlich zentripetal, es sei denn, daß das Gewirr, in dem sie aneinanderhängen, die Quelle ihrer Nahrung ist. Vom zoologischen Gesichtspunkt aus betrachtet, sind diese Würmer Nemathelminthen, genauer gesagt von der Gattung Ascaris lumbricoides, ungefähr fünfzehn bis zwanzig Zentimeter lang; sie haben zylindrische Form, sind von elfenbein-rosa Farbe, an den beiden Enden zugespitzt; in der Regel ist das Männchen kleiner als das Weibchen. Die Frage, die sich die Leser von Zenobi, der auch Redakteur der Buchseiten einer großen Morgenzeitung ist, häufig stellen, ist die folgende: sind die Würmer stets dieselben oder erneuern sie sich? Es ist wahrscheinlicher, daß die fraglichen Spulwürmer sich vermehren und ständig durch neue Spulwürmer ersetzt werden, da Zenobi schon seit zweiundzwanzig Jahren dieselbe literarische Spalte bei derselben Zeitung innehat, und kein Wurm hält so lange durch.   - (bdm)

Literaturkritiker (2)  Der Literaturkritiker erwacht mit einem Grauen vor den Sätzen, vor jeglichem Satz, den er selbst oder ein anderer sagt oder schreibt. Er weiß nicht genau, was ihm widerfährt, aber er wünscht sich auf einmal, er wäre fest an das Bett gebunden, seine Ohren und sein Mund auf einige Jahre mit Heftpflaster zugeklebt, so daß er sich in Schweigen mit dem Grauen vor den Sätzen abfinden kann, die aus seinem Mund kommen und ihn aus der Fassung bringen. Denn er hat das untrügliche Gefühl: wenn einer redet, ist er nie er selbst; alles, was die Sätze sagen, hat nichts zu tun mit dem, der sie ausspricht oder schreibt, und hängt nur von der schrecklichen Verpflichtung ab, den anderen etwas fürs Leben sagen zu müssen.

Als er die Hoteldirektion anruft und bittet, man möge ihn fest an ein Bett binden und ihm auf einige Jahre Mund und Ohren mit Heftpflaster zukleben, kann natürlich keiner sein Grauen vor den Sätzen verstehen, und man halt ihn für verrückt und liefert ihn in eine Klinik ein.   - Gianni Celati, Der wahre Schein. Berlin o. J. (zuerst 1987)

 

Kritiker Leben, literarisches

 

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