inien, stürzende   Unmittelbar unter ihnen und um sie herum stürzten die Linien des gotischen Bauwerks hinaus in die Leere mit jener übelkeiterregenden Geschwindigkeit, die dem Selbstmord nahekommt. Da ist jenes Element von Titanenenergie in der Architektur des Mittelalters, das - gleich von welchem Blickpunkt aus gesehen — immer davonzustürzen scheint wie der Rücken eines durchgehenden Pferdes. Diese Kirche war aus altem und schweigendem Stein gehauen, von alten Pilzkolonien bebartet und von Vogelnestern befleckt. Und doch, als sie von unten hinaufsahen, sprang sie wie ein Springbrunnen auf zu den Sternen; und als sie jetzt von oben hinabblickten, stürzte sie wie ein Wasserfall hinab in den lautlosen Abgrund. Denn diese beiden Männer auf dem Turm waren allein mit dem furchtbaren Aspekt der Gotik: den ungeheuerlichen Verkürzungen und Mißproportionen, den schwindelerregenden Perspektiven, der Erscheinung großer Dinge als klein und kleiner Dinge als groß; eine in der Luft schwebende steinerne Umkehrung aller Dinge. Einzelheiten aus Stein, die durch ihre Nähe riesig wirkten, hoben sich vor dem Muster aus Feldern und Farmen ab, die in der Entfernung winzig wirkten. Ein skulptierter Vogel oder ein Tier in einer Ecke wirkte wie ein riesiger wandelnder oder fliegender Drache, der die Weiden und Weiler tief unten verwüstete. Die ganze Atmosphäre war schwindelerregend und gefährlich, als ob die Menschen inmitten der kreisenden Schwingen riesiger Geister in der Luft gehalten würden; und die Masse dieser alten Kirche, so groß und prachtvoll wie eine Kathedrale, schien über dem sonnenbeschienenen Land wie eine Gewitterwolke zu lasten.  - G.K. Chesterton, Der Hammer Gottes. In: Ders., Father Browns Einfalt. Zürich 1991 (zuerst 1911)

Linien, stürzende  (2)   Vincenzo Florio war ein gelassener, geistreicher Mann, dem die Wechselfälle des Schicksals gleichgültig waren. Er war ein guter Zeichner und zeichnete alles, worauf sein Auge fiel. Und so hielt er eines Tages auf einem Stück Papier, kaum größer als eine Visitenkarte, das Gesicht einer Greisin fest. Die Linien laufen gleichsam in einem unsichtbaren Punkt zusammen, der ganz unten, schon außerhalb des Blattes liegt; sie stürzen geradezu hinab, und die gebieterischen Züge, die einstige Majestät dieses Gesichts fallen zur Karikatur in sich zusammen. »Franca, wie sie sich gestern abend zurückzog.« Eine zerstörte Maske, die sich unter den Creme- und Puderschichten auflöst. Nach einem mondänen Abend in Paris, Rom oder Venedig, vielleicht auch nach einer Premiere im Teatro Massimo von Palermo. Man kann sich das Entsetzen dieser Frau vorstellen, als sie während eines Abends in Gesellschaft plötzlich bemerkt, daß ihr geduldig und raffiniert restauriertes Gesicht sich langsam auflöst und in sich zusammenfällt. Sie flieht nach Hause. Und der Schwager wartet nur darauf, sie in einem Augenblick der Beschämung, der Niederlage, des Endes zu überraschen, und hält auf einem Blättchen Papier den Augenblick fest: »Franca, wie sie sich gestern abend zurückzog.«  - Leonardo Sciascia, Schwarz auf schwarz.  München 1991 (dtv 11328, zuerst 1979)

 

Linie Sturz

 

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Photographie
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