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Kein goldnes Monument, kein Marmorstein
Wird überleben dieses mächtige Lied;
Aus ihm strahlst du in hellerm Glorienschein
Als dumpfer Stein, den Moder überzieht.

Wenn wüster Krieg Denkmale macht zu Staub,
Paläste stürzt und Mauern niederbricht,
Du wirst dem Schwert, dem Feuer nicht zum Raub
Du lebst in diesem ewigen Gedicht.

Du gehst durch Tod und Allvergessenheit
Lächelnd hindurch, und deine Schönheit ragt
Noch zu den Menschen jener späten Zeit,
Für die das Ende aller Tage tagt.

Bis du dich selbst wirst aus dem Grab erheben,
Sollst du durch mich in Menschenherzen leben.

- Shakespeare, Übs. Therese Robinson

Lied (2)  Das Regiment von Preobajensky marschierte vorbei. Die Militärkapelle spielte eine alte Weise, nach der die Soldaten traurig sangen:

Verflucht soll deine Mutter sein!
Zieh in den Krieg, du armer Bauer,
Und schon wird deine Frau bestiegen
Von allen Stieren deines Stalls.
Und du mußt dir den Pimmel von
Sibiriens Fliegen kitzeln lassen.
Doch reich das Glied den Biestern nicht
Am Freitag, da wird streng gefastet,
Da darfst du ihnen nicht mal Zucker geben.
Aus Totenbein ist der gemacht.
Beschlagen wir doch, Bauern, meine Brüder,
Die Stute eines Offiziers.
Sie hat ein weniger großes Loch
Als alle die Tatarenweiber.
Verflucht soll deine Mutter sein!

- Guillaume Apollinaire, Die elftausend Ruten. München 1985 (zuerst 1907)

Lied (3)

A Sort of a Song

Let the snake wait under
his weed
and the writing
be of words, slow and quick, sharp
to strike, quiet to wait,
sleepless.

- through metaphor to reconcile
the people and the stones.
Compose. (No ideas
but in things) Invent!
Saxifrage is my flower that splits
the rocks.

Eine Art Lied

Laß die Schlange warten
unter ihrem Kraut
und schreib mit Worten
ruhig, schnell, hart
im Schlagen, still im Warten,
schlaflos.

- Menschen und Steine versöhnt
allein die Metapher.
Stell zusammen. (Gedanken
sind nur in Dingen.) Erfinde!
Steinbrech ist meine Blume, die sprengt
den Fels.

- William Carlos Williams, nach (mus)

Lied (4) Als Säugling hatte Ted Strehlow eine Aranda-Amme, und er sprach bereits als Kind fließend Aranda. Später, nach Abschluß seines Universitätsstudiums, ging er zu »seinem Volk« zurück, und über dreißig Jahre lang hielt er in Notizbüchern, auf Tonbänden und Filmen die Lieder und die Übergabezeremonien fest. Seine schwarzen Freunde hatten ihn darum gebeten, damit ihre Lieder nicht ganz mit ihnen ausstürben.

Angesichts dessen war es nicht weiter überraschend, daß Strehlow eine zerrissene Persönlichkeit war: ein Autodidakt, der sowohl Einsamkeit als auch Anerkennung brauchte, ein deutscher »Idealist«, der mit den Idealen Australiens auf Kriegsfuß stand.

Aranda Traditions, sein früheres Buch, war mit seiner These, daß der Geist des »Primitiven« dem des modernen Menschen keineswegs unterlegen sei, seiner Zeit um Jahre voraus. Diese Botschaft, die bei angelsächsischen Lesern weitgehend auf taube Ohren stieß, wurde von Claude Levi-Strauss übernommen, der Strehlows Erkenntnisse in Das wilde Denken aufnahm.

Und dann, im fortgeschrittenen Alter, setzte Strehlow alles für eine grandiose Idee aufs Spiel.

Er wollte den Beweis erbringen, daß jeder Aspekt des Aborigine-Songs seine Entsprechung im Hebräischen, Altgriechischen, Altnorwegischen oder Altenglischen hatte: in den Literaturen, die wir als unsere eigenen ansehen. Er hatte den Zusammenhang zwischen Lied und Land erkannt und wollte das Lied jetzt an seiner Wurzel selbst fassen — im Lied einen Schlüssel finden, um das Geheimnis der menschlichen Existenz zu ergründen. Es war ein unmögliches Unterfangen. Er erhielt keinen Dank für seine Mühen.

Als die Songs 1971 erschienen, deutete eine nörgelige Besprechung im Times Literary Supplement an, daß der Autor sich der Verbreitung seiner »großen poetischen Idee« besser enthalten hätte. Über diese Kritik war Strehlow sehr aufgebracht. Noch aufgebrachter war er über die Angriffe von »Aktivisten«, die ihm vorwarfen, unschuldigen und arglosen Ältesten die Lieder zum Zwecke der Veröffentlichung gestohlen zu haben.

Strehlow starb 1978 an seinem Schreibtisch, ein gebrochener Mann. Seinem Andenken wurde mit einer in abfälligem Ton gehaltenen Biographie gehuldigt, die mir, als ich im Desert Bookstore einen Blick hineinwarf, den Eindruck vermittelte, als sei sie nicht einmal der Verachtung wert. Er war, davon bin ich überzeugt, ein höchst origineller Denker. Seine Bücher sind große, einsame Bücher. - (chatw)

Lied (5)

Lied (6)   Die Stämme an der Nordwestküste Amerikas - die Nootka, Haida, Kwakiutl und Eela Coola -  liebten es nach wie vor, über das Meer zu fahren, und sie steuerten ihre Kanus die Strömung hinauf, die von Kalifornien bis zur Beringstraße verläuft und die sie »Klin Otto« nannten. Als Navigatoren füngierten Priesterinnen. In Sibirien waren sie als »Schamankas« bekannt. Die nachfolgend zitierten Worte einer alten Frau veranschaulichen eine über fünfzehntausend Jahre alte Tradition:

Alles, was wir über die Bewegung des Meeres wußten, war in den Strophen eines Lieds enthalten. Tausende von Jahren gingen wir, wohin wir wollten, und dank des Lieds fanden wir sicher zurück. In klaren Nächten ließen wir uns von den Sternen leiten, und im Nebel gab es die Ströme und Flüsse des Meeres, die Ströme und Flüsse, die hineinfließen und zu Klin Otto werden...

Es gab ein Lied für den Weg nach China und ein Lied für den Weg nach Japan, ein Lied für die große Insel und ein Lied für die kleinere. Sie mußte nur das Lied kennen, und sie wußte, wo sie war. Wenn sie heimkehren wollte, sang sie das Lied ganz einfach rückwärts...   -(chatw)

 

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