Liebesforschung  Wir kommen an, sie wie ein Vogel mit nassen Flügeln, ich entzückt über den Anfangserfolg meiner Forschungspläne. Denn ohne mich von dieser Entführung zu romanhafter Eitelkeit hinreißen zu lassen, hatte ich für die ganze Zeit der Reise, während der ich das junge aufgescheuchte Mädchen beruhigte, zwischen seiner zehnten und elften Rippe geschickt einen Kardiographen von besonders langer Funktionsfähigkeit angebracht, der so genau arbeitete, daß Dr. Marey, dem ich die komplette Beschreibung des Apparats verdanke, sich seine Herstellung aus Sparsamkeit versagt hatte.

Dann ein Wagen, der uns vom Bahnhof abholte. Schrecken, Verwirrung, trunkene Unruhe der jungen Dame. Meine nur schwach abgewehrten Umarmungen erlaubten dem Kardiographen, die Reaktionen der inneren Organe auf die gegebene Lage zu registrieren.

Und in dem köstlichen Boudoir, in dem sie sich, das Gesicht in den Händen verbergend, ihren endgültigen Bruch mit den Forderungen der Moral und der öffentlichen Meinung zum Vorwurf machte, konnte ich glücklicherweise zur genauen Bestimmung ihres Körpergewichts schreiten (was gerade in diesem Augenblick unbedingt wichtig war). Und zwar auf folgende Art:

In Gedanken verloren, hatte sie sich auf einem Sofa niedergelassen. Bewegt, ja bezaubert von ihrem Anblick, blieb ich stehen und drückte mit dem Absatz auf einen elektrischen Klingelknopf, der unter dem Teppich angebracht war, und nebenan, in einem verborgenen Zimmer, am Ende der Hebevorrichtung einer Art Brückenwaage, deren anderes Ende das Sofa bildete, konnte Jean (ein ergebener und wohlunterwiesener Diener) das Gewicht der jungen Dame in bekleidetem Zustand feststellen.

Ich setzte mich an ihre Seite und sparte nicht mit allen möglichen Tröstungen, Zärtlichkeiten, Küssen, ich streichelte, hypnotisierte sie - Tröstungen, die, nach meinem Forschungsplan, trotzdem nur vorläufig sein sollten.

Ich übergehe die Zwischenstationen, die mir schließlich erlaubten, immer noch auf dem Sofa, sie auch ihrer letzten Kleidungsstücke zu entledigen und sie dann in den Alkoven zu tragen, wo sie Familie, öffentliche Meinung und Gesellschaft vergaß.

Während dieser Zeit wog Jean die auf dem besagten Sofa zurückgelassenen Kleidungsstücke, Schuhe und Strümpfe mit einbegriffen, woraus sich durch Substraktion das Nettogewicht des Körpers der Frau ergab.

In dem Zimmer übrigens, wo sie sich, trunken von Liebe, meiner Leidenschaft hingab, die natürlich fingiert war (denn ich hatte keine Zeit zu verlieren), waren wir gleichsam in einer Retorte. Die mit Kupfer verdoppelten Mauern verhinderten jede Verbindung mit der Luft außerhalb des Zimmers; und die Luft im Zimmer selbst war, zuerst ehe sie es betrat, dann als sie es verließ, der strengsten Analyse unterworfen. Die Pottaschelösungen in kugelförmigen Vorrichtungen gaben jedem geschickten Chemiker Stunde um Stunde die jeweilige Menge von Kohlensäure bekannt.

Ich erinnere mich in dieser Hinsicht an kuriose Meßwerte, aber ihnen fehlt doch die gerade auf den Tabellen erforderliche Genauigkeit, da mein Atem, der eines nicht Verliebten, mit dem Virginies vermischt war, dem einer wahrhaft Verliebten. Es genügt, ganz allgemein das Übermaß von Kohlensäure in besonders stürmischen Nächten zu erwähnen, in denen die Leidenschaft ihre Maxima erreichte, sowohl an Intensität wie in ihrem zahlenmäßigen Niederschlag.

Streifen von Lackmuspapier, die geschickt im Futter ihrer Kleidung verteilt waren, haben mir gezeigt, daß ihr Schweiß beständig eine starke Säurereaktion hervorrief. Und dann, an den folgenden Tagen, in den folgenden Nächten, wieviele Zahlen waren da zu registrieren über die mechanischen Auswirkungen nervlicher Kontraktionen, über die Menge der ausgeschiedenen Tränen, über die Zusammensetzung des Speichels, über die wechselnde Feuchtigkeit der Haare, über die Spannungswerte sorgenvoller Seufzer und lustvollen Stöhnens!

Die Ergebnisse des Küssezählers sind besonders merkwürdig. Das Instrument, das ich selber erfunden habe, ist nicht großer als jene Apparate, die die Jahrmarktgaukler in den Mund nehmen, wenn sie als Pulcinella auftreten, und die sie als Stimmröhre bezeichnen. Sowie das Gespräch zärtlich wurde und die Situation sich günstig anließ, schob ich mir den aufgezogenen Apparat, natürlich in aller Heimlichkeit, zwischen die Zähne.

Für Ausdrücke wie »tausend Küsse«, die man ans Ende von Liebesbriefen setzt, hatte ich bislang nur Verachtung empfunden. Das sind, sagte ich mir, in die Vulgärsprache übergegangene Hyperbeln, nach dem Vorbild gewisser geschmackloser Dichter, wie Jean Second zum Beispiel. Nun denn, ich bin glücklich, eine experimentelle Bestätigung für jene triebhaften Floskeln beibringen zu können, die auch vor mir schon viele Wissenschaftler für vollkommen aus der Luft gegriffen hielten. Im Zeitraum von etwa anderthalb Stunden hatte mein Zähler neunhundertvierundvierzig Küsse registriert.

Dabei störte mich das Instrument im Munde; ich war mit meinen Forschungen beschäftigt, und außerdem gleichen fingierte Handlungen nie ganz den wirklichen. Wenn man das alles in Rechnung stellt, wird man einsehn, daß jene Zahl neunhundertvierundvierzig von heftig verliebten Leuten möglicherweise oft überschritten wird.   - Charles Cros, nach (hum)

 

Liebe Menschenforschung

 

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