Liebe, blinde     In Lille, ihrer Heimatstadt, die sie erst vor zwei oder drei Jahren verlassen hat, war sie mit einem Studenten bekannt gewesen, den sie vielleicht geliebt hat und der sie liebte. Eines schönen Tages, als er es am wenigsten erwartete, hat sie sich entschlossen, ihn zu verlassen, und zwar »aus Angst, ihm lästig zu fallen«. Damals ist sie nach Paris gekommen, von wo sie ihm in immer längeren Zwischenräu-men geschrieben hat, ohne ihm je ihre Adresse zu geben. Fast ein Jahr später jedoch hat sie ihn in Paris selbst getroffen, sie waren beide sehr überrascht. Er nahm ihre Hände, konnte aber nicht umhin ihr zu sagen, wie sehr er sie verändert finde, und als er darauf ihre Hände betrachtete, war er erstaunt, daß sie so gepflegt waren (jetzt sind sie es kaum). Automatisch betrachtete sie dann ihrerseits eine der Hände, die die ihren hielten, und konnte einen Schrei nicht unterdrücken, als sie bemerkte, daß die beiden letzten Finger untrennbar zusammengewachsen waren. »Aber du hast dich verwundet!« Es war unbedingt notwendig, daß der junge Mann ihr auch seine andere Hand zeigte, die dieselbe Mißbildung aufwies. Darauf befragt sie mich lange, mit großer Erregung: »Ist das möglich? So lange mit einem Wesen gelebt haben, alle möglichen Gelegenheiten gehabt haben, es zu beobachten, erpicht sein, seine geringsten physischen und anderen Eigenschaften zu 'entdecken, und es schließlich so schlecht kennen, daß man nicht einmal das bemerkt hat! Glauben Sie es: glauben Sie, daß die Liebe so etwas fertigbringt? Und er, er war derart böse, was wollen Sie, ich mußte darauf schweigen, diese Hände ... Er hat dann etwas gesagt, was ich nicht verstehe, mit einem Wort, das ich nicht verstehe, er hat gesagt: >Tölpel! Ich werde nach Elsaß-Lothringen zurückkehren. Nur dort können die Frauen lieben.<  - (nad)
 

Liebe Blindheit

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