iberalismus
Der Sex,
sagte ich mir, stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem
dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens
ebenso erbarmungslose Weise. Auch die Wirkungen dieser beiden Systeme sind genau
gleichartig. Wie der Wirtschaftsliberalismus - und aus analogen Gründen - erzeugt
der sexuelle Liberalismus Phänomene absoluter Pauperisierung. Manche haben täglich
Geschlechtsverkehr; andere fünf- oder sechsmal in ihrem Leben oder überhaupt
nie. Manche treiben es mit hundert Frauen, andere mit keiner. Das nennt man
das «Marktgesetz». In einem Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten
sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen Platz. In einem sexuellen
System, in dem Ehebruch verboten ist, findet jeder recht oder schlecht seinen
Bettgenossen. In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige
beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im
Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches
und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt.
Der Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das heißt, er gilt
für alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle
Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung auf alle Altersstufen
und Gesellschaftsklassen. In wirtschaftlicher Hinsicht gehört Raphaël
Tisserand zum Lager der Sieger; in sexueller Hinsicht zu den Verlierern. Manche
gewinnen auf beiden Ebenen; andere verlieren auf beiden. Die Unternehmen kämpfen
um einige wenige Jungakademiker; die Frauen kämpfen um einige wenige junge Männer;
die Männer kämpfen um einige wenige Frauen. - Michel Houellebecq,
Ausweitung der Kampfzone (1999, zuerst 1994)
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