exikograph
Eine deutsche Quelle behauptet, daß jener Daubmannus, der im Jahre 1691 das
Chasarische Wörterbuch herausgegeben habe, nicht dieselbe
Person sei wie Daubmannus, der Herausgeber des polnischen Wörterbuchs aus der
ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Jener jüngere Daubmannus war dieser preußischen
Quelle zufolge in der frühesten Kindheit verstümmelt worden. Zudem nannte er
sich auch gar nicht Joannes Daubmannus, sondern Jakob Tarn David ben Jachja,
wie sein richtiger Name gelautet habe. »Tag und Nacht soll er verflucht sein!«
so sagt man, habe eine Farbenverkäuferin hinter ihm hergerufen. Es ist nicht
bekannt, warum der Fluch ausgesprochen wurde, doch zeigte er Wirkung. Es war
zu Beginn des Monats adar, als der Knabe gekrümmt wie ein Säbel durch
den Schnee nach Hause zurückkehrte. Seither ging er, eine Hand am Boden nachschleifend
und mit der anderen den eigenen Kopf am Haar hochhaltend, da dieser sich nicht
selbst aufrecht zu halten vermochte. So kam es, daß er sich der Typographie
verschrieb, denn bei dieser Arbeit störte ihn der auf der Schulter ruhende Kopf
nicht, vielmehr war er ihm in dieser Stellung sogar dienlich. Er lachte und
sagte: »Die Finsternis ist wie ein Licht!«, und er verdingte sich beim eigentlichen
Daubmannus, jenem älteren Joannes, und bereute es nicht. So wie Adam die Tage
der Woche taufte, so verlieh er jeder der sieben Buchbinderkünste einen Namen;
er sang beständig, während er die Buchstaben aus dem Kasten wählte, und für
jeden von ihnen ein anderes Lied; auf den ersten Blick konnte man denken, daß
er mit seiner Krankheit nicht hadere. Es geschah jedoch, daß Preußen
von einem der berühmten Wundärzte jener Zeit bereist wurde, einem jener seltenen,
denen bekannt war, wie Elohim Adam mit der Seele vermählte. Und Daubmannus der
Altere schickte seinen Jakob Tarn David zu diesem Wundarzt, damit er geheilt
werde. Denn Jakob war zu jener Zeit bereits ein Jüngling, trug eines der heitersten
Lächeln auf seinem Gesicht, ein gut gesalzenes Lächeln, wie man sagte, verschiedenfarbige
Hosen, und aus dem Ofen, wo sommers im Durchzug des Rauchfangs die Eier gelagert
wurden, aß er im Monat elul die Rühreier schneller, als zehn Hühner sie zu legen
vermochten. Des Jünglings Augen blitzten am Messer auf, mit dem er das Brot
schnitt, und als er von dieser Möglichkeit hörte, band er die Schnurrbartenden
zu einem Knoten und machte sich auf, seinen Kopf in der Hand tragend. Man weiß
nicht, wie lange sein Fernsein dauerte, doch an einem sonnigen siwan kehrte
Jakob David ben Jachja gesund, aufrecht und hochgewachsen, aber unter neuem
Namen aus Deutschland zurück. Er hatte den Namen seines Wohltäters Daubmannus
angenommen, jenes älteren, der ihn bucklig fortgeschickt hatte und ihn jetzt
gesund und freudig mit den Worten empfing:
»Von einer Aufspaltung der Seele
kann nicht die Rede sein! Sonst könnten wir ihre eine Hälfte im Paradies aufbewahren,
die andere in der Hölle! Dafür bist du der Beweis.«
Und wirklich, mit dem
neuen Namen begann der junge Daubmannus ein neues Leben. Dieses Leben indes
war doppeldeutig wie ein Teller aus Siebenbürgen mit zwiefachem Boden. Daubmannus
der Jüngere kleidete sich auch weiterhin wie ein Stutzer und trug zwei Kappen
zu den Jahrmärkten, eine am Gürtel, die andere auf dem Kopf, und er tauschte
sie zuweilen aus, um hübscher auszusehen. Er war wirklich schön, mit Haar wie
von Flachs, das im Monat aufgewachsen, und er besaß so viele schöne Gesichter
wie der Monat siwan, der über dreißig verschiedenartige Tage verfügt.
Schon wollte man ihn verheiraten. Aber es zeigte sich sehr bald, daß von seinem
Gesicht, seit er geheilt war, jenes so bekannte Lächeln verschwunden war. Dieses
Lächeln, das er morgens von seinem Munde fortblies, wenn er die Druckerei betrat,
erwartete ihn allerdings am Abend vor der Tür der Werkstatt wie ein Hund, wohl
auch nach der Gewohnheit früherer Jahre, doch fing er es gleich einem künstlichen
Schnurrbart, der nicht abfallen soll, im Flug mit
der Oberlippe auf. Und geradeso stand ihm das Lächeln
auch. Man flüsterte, daß sich der Drucker, als er den Buckel abwarf und sich
aufrichtete, der Angst beugte. Er erschrak - so redeten sie um ihn herum - vor
der Höhe, von der aus er jetzt auf die Welt schaute, vor den neuen Ausblicken,
die er nicht wiederzuerkennen vermochte, vor allem aber vor seiner Gleichheit
mit den anderen Menschen, die er jetzt überragte, er, der früher kleiner gewesen
war als irgend jemand sonst auf der Straße.
Unter diesen Ubertreibungen der Gasse flossen verborgen und raunend andere,
schwerere Geschichten wie Schlamm unter dem Wasser des Flusses. Einer dieser
schrecklichen Geschichten zufolge lag die Quelle für die einstige knabenhafte
Fröhlichkeit und Überschwenglichkeit des Daubmannus - die ihm trotz seiner Krankheit
eigen war - in dem Umstand, daß er derart zusammengerollt und bucklig sich selbst
zu erreichen und zu saugen imstande war, so daß er die Erfahrung machte, daß
der männliche Same den Geschmack weiblicher Milch
hat. So erneuerte er sich in sich selbst. - (
pav
)
Lexikograph (2) Daß man von Johnson als von Dr. Johnson spricht, mag geschehen, um ihn von den vielen anderen Trägern dieses Namens zu unterscheiden; gleichzeitig wird damit aber bekundet, daß nicht so sehr der Schriftsteller gemeint ist, sondern Johnson als Mann und Mensch, Johnson der Sonderling, der ungeschlachte Bärenhäuter, der zwar - physiognomisch gesehen - ein gutes Gesicht hatte, wie Johann Heinrich Füssli feststellte, in seinen Bewegungen aber doch recht eigenartig wirkte; ein wahrer Kinderschreck, nicht geschaffen für geselligen Verkehr, und dabei ein Mensch, der keine Stunde allein sein konnte; der unermüdliche Bücherwurm, seiner Belesenheit wegen bewundert und gefürchtet, der sein Leben lang immer wieder den vergeblichen Vorsatz faßte, früher aufzustehen; der Verfechter des gesunden Menschenverstandes, der ständig für seinen Verstand fürchtete; der Habenichts, der sich für das Recht der Besitzenden einsetzte; ein Johannes Factotum, der sich einst als Dichter gesehen und aus seinem Traum schließlich als Lexikograph erwachte - kurz, der seltsame Kauz mit all seinen körperlichen und seelischen Eigenheiten, wie ihn Boswell der Nachwelt überliefert hat.
Darüber läßt sich nicht gut hinwegsehen: es waren schon etwas mehr als Eigenheiten,
was ihn kennzeichnete. Allzu viele Züge verraten, wie gefährdet dieses Dasein
war, wie nahe es sich am Abgrund bewegte. Nicht umsonst hat ihn immer wieder
die Frage nach den Übergängen zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit beschäftigt.
Der Mann, der die Grundwahrheiten des Lebens auf Formeln gebracht hat, die durch
alle Schichten des englischen Volkes hindurch als Ausfluß gesunden, besonnenen
Menschenverstandes Geltung haben, sagte von sich selber, er sei zeitlebens nie
ganz bei Sinnen gewesen. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß für Johnson »Wahnsinn«
schon bei einem »Überwuchern der Phantasie« begann. Hier haken diejenigen ein,
die seinen »Fall« zu ergründen suchen. Für die einen besteht die »sinnliche
Trübung«, die Johnson sich in seinen Aufzeichnungen oft vorwirft, lediglich
im übermäßigen Essen und Trinken. Die Herausgeberin der »Thraliana« hingegen
kommt in einer Untersuchung über Johnsons Schwermut zum Schluß, das Übel habe
seinen Grund im unausgelebten Geschlechtstrieb gehabt; unter der ȟberwuchernden
Phantasie« seien masochistische Zwangsvorstellungen zu verstehen. -
Fritz Güttinger, Vorwort zu (
johns
)
Lexikograph (3) Daß Johnson auch ein paar fehlerhafte
Worterklärungen unterlaufen sind, soll nicht geleugnet werden. So hat er zum
Beispiel für die gegensätzlichen Begriffe «Luv» und «Lee» ein und dieselbe Bedeutung
angegeben. Er selber spricht ja im Vorwort die Vermutung aus, es könne bei einem
so umfangreichen Werk nicht ohne dergleichen Schönheitsfehler abgehen; auch
geriet er keineswegs aus der Fassung, wenn man ihn auf einen solchen Schnitzer
aufmerksam machte. Eine Dame fragte ihn einst, wie er
dazu gekommen sei, die «Fessel» als das Knie eines Pferdes zu bezeichnen; statt
sich umständlich zu rechtfertigen, wie sie erwartet hatte, gab er sogleich zur
Antwort: «Unwissenheit, gnädige Frau, pure Unwissenheit.» - (
johns
)
Lexikograph (4) Signor Saltarino hat die ehrenvolle und undankbare Aufgabe übernommen, ein Artisten-Lexikon zu schaffen. Ehrenvoll, weit er dadurch eine Reihe namhafter, aber auch weniger bedeutender Artisten vor der Vergessenheit bewahrte. Undankbar, weil sich alle zu beschweren begannen, die nicht ausreichend gewürdigt wurden. Die zweite, erweiterte Ausgabe, die für diesen Band als Vorlage benutzt wurde, erschien 1895.
Wie so viele Zirkushistoriker hat natürlich auch er von überliefertem Material abgeschrieben oder übernommen, was der eine oder andere Artist als seine Vergangenheit ausgegeben hat. Alles konnte er nicht selbst ermitteln, erlebt oder nachgeprüft haben. Somit haben sich in seine Fleißarbeit manche Fehler eingeschlichen, die natürlich nicht korrigiert wurden. Dennoch ist bewundernswert, mit welcher Vehemenz und Liebe der Autor versucht hat, seine geliebte Artistenwelt der Nachwelt zu überliefern. Wie Signor Saltarino schreibt, hat er nahezu zwei Jahrzehnte gebraucht, um dieses Lexikon aus oft dürftigem Material zu schaffen.
Nach wie vor ist es ein sehr kleiner Kreis ernst zu nehmender Zirkusfreunde und Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte der Unterhaltungskünstler befassen, die sich bemühen, Legenden von Tatsachen zu trennen und authentisches Material zu finden.
Signor Saltarino ist sein Künstlername, der wirkliche Name lautet
Hermann Waldemar Otto.
Er wurde am 14. April 1863 in Hohenstein-Ernstthal in Sachsen geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre, die er nicht beendete, begab er sich mit 16 Jahren auf Wanderschaft. Er arbeitete in Leipzig und in Magdeburg, um sich schließlich einer böhmischen Komödiantentruppe anzuschließen. Dann zog er mit verschiedenen Kunstreitergesellschaffen weiter und lernte die bekanntesten Gruppen wie Warge, Blumenfeld und Althoff kennen. Mit ihnen bereiste er als Artist Osteuropa und den Balkan.
Seit 1886 arbeitete er in der Redaktion der Düsseldorfer Fachzeitschrift
»Der Artist«, deren Hauptschriftleiter er geworden war. Seinen schriftstellerischen
Ambitionen ist er jedoch bereits in jungen Jahren nachgegangen. Von Novellen
über Romane bis zu historischen Beschreibungen hat er die breite Palette möglicher
Publikationen genutzt. Als er am 11. Januar 1941 in Düsseldorf starb, wurde
seinem Wunsche entsprechend die Urne nach Hohenstein-Ernstthal überführt.
- Roland Weise, aus: Salto. 99 Luftsprünge, Purzelbäume und andere
Kunststücke. Berlin 2001 (Wagenbach, Salto 100, Hg. Susanne Schüssler, Maren
Arzt)
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