esenlernen   Ich lernte rasch, regelmäßig, ohne mir viel dabei zu denken. Nach einem Jahr fühlte ich mich in Petersburg, in den Privatgemächem des Selbstherrschers aller Russen, im Kinderzimmer des immer kränklichen Zarewitsch, zwischen Verschwörern und Popen und nicht zuletzt als Augenzeuge Rasputinscher Orgien wie zu Hause. Das hatte ein mir zusagendes Kolorit, da ging es um eine zentrale Figur. Das sagten auch die im Buch verstreuten zeitgenössischen Stiche, die den bärtigen Rasputin mit den Kohleaugen inmitten schwarze Strümpfe tragender, sonst nackter Damen zeigte. Rasputins Tod ging mir nach: man hat ihn mit vergifteter Torte, vergiftetem Wein vergiftet, dann, als er mehr von der Torte wollte, mit Pistolen erschossen, und als ihn das Blei in der Brust tanzlustig stimmte, gefesselt und in einem Eisloch der Newa versenkt. Das taten alles männliche Offiziere. Die Damen der Metropole Petersburg hätten ihrem Väterchen Rasputin niemals giftige Torte, sonst aber alles gegeben, was er von ihnen verlangte. Die Frauen glaubten an ihn, während die Offiziere ihn erst aus dem Weg räumen mußten, um wieder an sich selbst glauben zu können.

War es ein Wunder, daß nicht nur ich Gefallen am Leben und Ende des athletischen Gesundbeters fand? Das Gretchen tastete sich wieder zur Lektüre ihrer ersten Ehejahre zurück, löste sich während des lauten Vorlesens gelegentlich auf, zitterte, wenn das Wörtchen Orgie fiel, hauchte das Zauberwort Orgie besonders, war, wenn sie Orgie sagte, zur Orgie bereit und konnte sich dennoch unter einer Orgie keine Orgie vorstellen.

Schlimm wurde es, wenn Mama in den Kleinhammerweg mitkam und in der Wohnung über der Bäckerei meinem Unterricht beiwohnte. Das artete manchmal zur Orgie aus, das wurde Selbstzweck und kein Unterricht für Klein-Oskar mehr, das gab bei jedem dritten Satz zweistimmiges Gekicher, das ließ die Lippen trocken und rissig werden, das rückte die beiden verheirateten Frauen, wenn Rasputin es nur wollte, immer näher zusammen, das machte sie unruhig auf Sofakissen, das brachte sie auf den Gedanken, die Schenkel zusammenzupressen, da wurde aus anfänglichem Gekalber schlußendliches Seufzen, da hatte man nach zwölf Seiten Rasputinlektüre, was man vielleicht gar nicht gewollt, kaum erwartet hatte, aber am hellen Nachmittag gerne mitnahm, wogegen Rasputin sicher nichts einzuwenden gehabt hätte, was er vielmehr gratis und bis in alle Ewigkeit austeilen wird. - Günter Grass, Die Blechtrommel. Frankfurt am Main 1965 (Fischer-Tb. 47314, zuerst 1959)

Lesenlernen (2)  Ich wurde eifersüchtig auf meine Mutter und beschloß, ihre Rolle zu übernehmen. Ich packte mir ein Buch mit dem Titel ‹Drangsale eines Chinesen in China› und zog damit in einen Abstellraum; dort hockte ich mich auf ein Eisenbett und tat so, als läse ich: mit den Augen folgte ich den schwarzen Linien, ohne auch nur eine einzige zu überschlagen, und erzählte mir dazu laut eine Geschichte, wobei ich mich bemühte, jede Silbe auszusprechen. Man ertappte mich - oder ich ließ mich ertappen -, es machte großes Aufsehen, man beschloß, nun sei es an der Zeit, mir das Alphabet beizubringen. Ich war eifrig wie ein Kind beim Katechismus-Unterricht; ich ging so weit, mir Nachhilfestunden zu geben: ich kletterte auf mein Eisenbett mit dem Buch ‹HeimatIos› von Hector Malot, das ich auswendig kannte; halb rezitierte ich, halb entzifferte ich, ich nahm mir eine Seite nach der anderen vor: als die letzte Seite umgeblättert war, konnte ich lesen. - Jean-Paul Sartre, Die Wörter. Reinbek bei Hamburg 1968
 
 

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