erchenspiegel  Auf einem schmalen Regal stand etwa ein halbes Dutzend geschliffener Kristallkugeln verschiedener Größe. Daneben lag ein sogenannter Lerchenspiegel, wie ihn die Jäger gebrauchen, um die scheuen Vögel anzulocken. Er besteht aus zwei Holzflügeln, die mit Spiegelstücken besetzt und in eine Rolle eingelassen sind; auf der Rolle ist Bindfaden aufgewickelt, und wenn man diesen kräftig abzieht, so drehen sich die Flügel um sich selbst; und die Spiegelstücke werfen das reflektierte Licht scheinwerferartig zurück Die Lerchen scheinen dieses Flimmern zu lieben, sie niegen darauf zu und werden unserem Jägersmann eine leichte Beute. So ein Apparat lag dort... Gut, daß ich keine Lerche bin, dachte ich, etwas unheimlich berührt.

«Ja», sagte Stadelmann vom Ofen her, «mit dem Ding habe ich große Erfolge bei meinen Patienten. Der hypnotische Schlaf tritt im Nu ein. Soll ich es Ihnen einmal zeigen? Da —sehen Sie, wie das anschnurrt und flimmert? Da kann auch der stärkste Wille nicht widerstehen —»

Wie Vögel, wie die Vögel, dachte ich, direkt unheimlich! Ich dachte an die Geschichte, die er mir einmal von einem Patienten erzählte, einem sehr reichen früheren Zeitungsverleger, der eines Morgens in der Redaktion ganz plötzlich wie ein Hahn zu krähen anfing. Kein anderes Wort als «Kikeriki» sei seither aus dem Mund dieses Mannes gekommen; man müsse ihm Körner auf den Fußboden seines Zimmers streuen, die lese er eins nach dem anderen mit spitzen Lippen auf wie mit einem Schnabel, wobei er die Arme seitlich ausgestreckt halte, Kniebeugen mache und Kikeriki schreie...

Wie schon gesagt, hatte Stadelmann seine höchstpersönlichen Theorien über alles. Geisteskrankheit, fand er, gebe es nur bedingt; er selbst halte es mit den mittelalterlichen Ärzten und den großen ägyptischen Heilern, die den geplagten Kopf eines sogenannten Irren als den Aufenthaltsort böser Geister ansahen und ihre Kuren auf deren Austreibung abstellten. Vom Standpunkt der heutigen «aufgeklärten» Ärzte oder Forscher war Dr. Stadelmann gewiß ein «abergläubischer» Arzt und Forscher. Andererseits aber waren wir alle für ihn nur mehr oder weniger seltsame, kluge, dumme oder lächerliche Vögel.

«Halten Sie mich auch für einen Vogel?» fragte ich ihn einmal.

«Natürlich, natürlich! Alle seid Ihr Vögel, alle, alle, alle», lachte er unheimlich schrill, wobei seine Stimme sich überschlug und er plötzlich selber wie ein Vogel aussah.  - George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Reinbek bei Hamburg 1986, zuerst 1955

 

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