Lektüre, überflüssige  Ich habe de Sade geliebt. Ich war fünfundzwanzig, als ich in Paris zum ersten Mal etwas von ihm gelesen habe. Es war ein noch gewaltigerer Schock als die Lektüre von Darwin.

In Berlin waren Die einhundertzwanzig Tage von Sodom in einer ganz kleinen Auflage zum ersten Mal gedruckt worden. Eines Tages sah ich eins dieser Exemplare bei Roland Tual, den ich mit Robert Desnos zusammen besuchte. Das Exemplar war eine Reliquie, Marcel Proust und andere hatten den so schwer zugänglichen Text darin gelesen. Ich bekam es geliehen.

Bis dahin wußte ich nichts von de Sade. Beim Lesen erfaßte mich ein tiefes Erstaunen. An der Universität hatte man uns im allgemeinen keins der großen Meisterwerke der Literatur vorenthalten, von Camões bis Dante, von Homer bis Cervantes. Wie war es also möglich, daß ich nichts von der Existenz dieses außerordentlichen Buches wußte, das die Gesellschaft überlegen und systematisch unter allen Gesichtspunkten untersuchte und einem kulturellen Kahlschlag gleichkam? Für mich war es ein beachtlicher Schock. Die Universität hatte mich belogen! Gleich erschienen mir andere „Meisterwerke" bar allen Wertes und aller Bedeutung. Ich habe versucht, die Göttliche Komödie wiederzulesen, aber es kam mir vor, als gäbe es kein weniger poetisches Buch auf der Welt -  noch weniger poetisch als die Bibel. Und dann erst die Lusiaden! Und "Das Befreite Jerusalem!"

Ich sagte mir: Vor allem anderen hätte man mir de Sade zu lesen geben müssen. So viel überflüssige Lektüren!

Ich wollte mir sofort noch andere Bücher von de Sade besorgen, aber da sie streng verboten waren, fand man sie nur in ganz seltenen Ausgaben aus dem achtzehnten Jahrhundert. Ein Buchhändler in der Rue Bonaparte, bei dem Breton und Éluard mich einführten, setzte mich auf eine Warteliste für Justine, hat sie mir aber nie besorgt. Dagegen hielt ich das Originalmanuskript der Einhundertzwanzig Tage von Sodom in der Hand und hätte es fast sogar gekauft. Der Vicomte de Noailles hat es schließlich erworben - eine ziemlich dicke Papierrolle.

Bei Freunden habe ich mir Die Philosophie im Boudoir ausgeliehen, von der ich begeistert war, den Dialog zwischen einem Priester und einem Sterbenden, Justine und Juliette. Ich liebte vor allem die Szene zwischen Juliette und dem Papst, in der dieser seinen Atheismus eingesteht.    Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer. Berlin, Wien, Frankfurt am Main 1985

 

Lektüre Überflüssigkeit

 

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