Leinwand, leere    Scheinbar: wirklich leer, schweigend, indifferent. Fast stumpfsinnig. Tatsächlich: voll Spannungen mit tausend leisen Stimmen, erwartungsvoll. Etwas erschrocken, da sie vergewaltigt werden kann. Aber fügsam. Sie tut gern, was man von ihr verlangt, bittet nur um Gnade. Sie kann alles tragen, aber nicht alles vertragen. Wunderbar ist die leere Leinwand — schöner als manche Bilder. Einfachste Elemente. Gerade Linie, gerade schmale Fläche: hart, unentwegt, sich rücksichtslos behauptend, scheinbar ‹selbstverständliche — wie das bereits erlebte Schicksal. So und nicht anders. Gebogene, ‹freie›: vibrierend, ausweichend, nachgebend, ‹elastisch›, scheinbar ‹unbestimmt› — wie das uns erwartende Schicksal. Es könnte anders werden, wird aber nicht. Hartes und Weiches. Die Kombination von beiden — unendliche Möglichkeiten. Jede Linie sagt ‹ich bin da!› Sie behauptet sich, zeigt ihr sprechendes Gesicht — ‹horcht! Horcht auf mein Geheimnis!› Wunderbar ist eine Linie. Ein kleiner Punkt. Viele kleine Pünktchen, die hier noch etwas, etwas kleiner sind und dort etwas, etwas größer. Alle haben sie sich hineingebohrt, bleiben aber beweglich — viele kleine Spannungen, die im Chor ständig wiederholen ‹horcht! horcht!› Kleine Mitteilungen, die sich im Chor verstärken — zum großen ‹Ja›. Schwarzer Kreis — entfernter Donner, eine Welt für sich, die sich scheinbar um nichts kümmert, ein Sich-Insich-Hinein-ziehen, ein Abschluß auf der Stelle. Ein langsam kühlgesagtes ‹Ich bin da›. Roter Kreis — sitzt fest, behauptet seine Stelle, ist in sich vertieft. Aber gleichzeitig wandert er, da er alle übrigen Stellen für sich haben möchte — so strahlt er über alle Hindernisse bis in die weiteste Ecke. Blitz und Donner zusammen. Leidenschaftliches ‹Ich bin da!› Wunderbar ist der Kreis. Das Wunderbarste ist aber: all diese Stimmen mit noch vielen, vielen anderen zu einer einzigen zu summieren, das ganze Gemälde ist zu einem einzigen ‹Ich bin da» geworden. Beschränkung, ‹Geiz›, toller Reichtum, ‹Verschwendung›, Donnerknall, Mückengesumm. Alles, was dazwischenliegt. Jahrtausende waren eine knappe Zeitspanne, um bis an den Boden, an die letzte Grenze der Möglichkeit zu kommen. Der Boden ist überhaupt nicht da.  - Wassily Kandinsky, nach: Walter Hess (Hg.), Dokumente zum Verständnis der modernen Malerei. Reinbek bei Hamburg 1964 (rde 19)
 

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