eid   Berlin. 16. Juli 1929. Dienstag Hofmannsthal gestorben, beim Begräbnis seines Sohnes, aus Aufregung über seinen Selbstmord. Ich bin wie mit dem Hammer vor den Kopf geschlagen. Tragische Generation, tragischer Freundeskreis! Rathenau, Paul Cassirer, Hofmannsthal; auch Bodenhausens Tod war in seinen letzten Ursachen tragisch.

Vielleicht hat jeder Mensch eine bestimmte Summe Leides zu absolvieren; wenn er es sich in kleinen Portionen täglich aufs Brot streicht durch allerlei Hemmungen, Verzichte, Opfer, dann lebt er das bourgeoise Leben; wenn er das aber nicht will, dann kommt es mit einem Male über ihn, und dann lebt er das unbourgeoise, ›romantische‹, ›gefährliche‹, tragische Leben. Jede Ethik und soziale Ordnung wäre ein System der Leidverteilung, der sozialen und individuellen Verteilung einer ein für allemal feststehenden Summe von Opfern und Leiden. Man kann diese Verteilung tausendfach variieren, aber vielleicht kann sie die Gesamtlast durch keine Ethik oder soziale Ordnung wesentlich vermindern. Auch hier gilt vielleicht ›das Gesetz der Erhaltung der Kraft‹ (das Gesetz der Erhaltung des Leids); und es bleibt schließlich eine individuelle Geschmacksfrage, ob man bourgeoise Hemmungen oder tragische Katastrophen vorzieht.  - Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937. Hg. Wolfgang Pfeiffer-Belli. Frankfurt am Main 1982 (it 659)

Leid (2) STEVENS: Das Heil der Welt liegt im Leiden des Menschen. Meinst du es so?

NANCY: Ja, Sir.

STEVENS: Wie das?

NANCY: Ich weiß nicht. Wenn die Menschen leiden, haben sie vielleicht so viel mit sich selbst zu tun, daß sie kein Unheil anrichten, und keine Zeit, sich gegenseitig Kummer zu machen und in die Quere zu kommen.

TEMPLE: Aber warum müssen wir leiden? Er ist doch allmächtig, so heißt es wenigstens. Warum konnte er nicht etwas anderes erfinden? Oder, wenn schon gelitten werden muß, warum dann nicht jeder für sich allein? Warum kann man nicht seine eigenen Sünden mit seiner eigenen Qual bezahlen? Warum müßt ihr leiden, du und mein kleines Kind, nur weil ich vor acht Jahren zu einem Baseballspiel gehen wollte? Muß man denn die Schmerzen aller anderen Menschen auf sich nehmen, nur um an Gott zu glauben? Was ist das für ein Gott, der seine Kunden mit dem Jammer und Elend der ganzen Welt erpressen muß?

NANCY: Er will ja nicht, daß wir leiden. Er mag das Leiden auch nicht. Aber er kann nichts machen. Er ist wie ein Mann, der zu viele Maulesel hat. Eines Morgens plötzlich sieht er sich um und sieht mehr Maulesel, als er auf einen Sitz auch nur zählen, geschweige denn Arbeit für finden kann; er weiß nur, daß es seine sind, denn sonst ist keiner da, der sie haben will, und daß sie am Abend vorher noch draußen auf der Koppel waren, wo sie weder sich noch irgendwem anderen den geringsten Schaden tun konnten. Und daß er, wenn es Montagmorgen wird, hingehen kann und ein paar von ihnen zusammentreiben und vielleicht auch einfangen, er muß bloß gut aufpassen, daß er den anderen dabei nicht den Rücken kehrt. Und daß sie, wenn sie einmal im Geschirr sind, seine Arbeit tun werden, so, daß er zufrieden sein kann; er muß bloß immer noch aufpassen, daß er ihnen nicht zu nahe kommt, und immer dran denken, daß einer von hinten kommen könnte, auch wenn er ihnen gerade Futter gibt. Auch dann noch, wenn es wieder Samstagmittag ist, und er sie wieder auf die Koppel läßt; und da merkt sogar ein Maulesel, daß er frei hat, jedenfalls bis Montagmorgen, um seinen Maultiersünden und seinem Maultiervergnügen nachzugehen.  - William Faulkner, Requiem für eine Nonne. München 1964 (dtv 242, zuerst ca. 1955)

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