eichenhühnchen
Totenvogel, auch Leichenhühnchen nennt der Volksmund die kleine
Sorte von Eulen oder Käuzchen, welche, so heißt es, nachts
im Fluge gegen das Fenster Sterbenskranker stoßen und mit dem Rufe »Komm mit!«
die ängstliche Seele ins Freie locken. Ist es nicht wunderlich, daß dieser Formel
auch die anrüchige Schwesternschaft sich bedient, wenn sie, unter Laternen hinstreichend,
die Männer frech und heimlich zur Wollust lädt? Einige sind beleibt wie Sultaninnen
und in schwarzen Atlas gepreßt, gegen welchen die Puderweiße des feisten Gesichtes
geisterhaft absucht, andere wiederum von verderbter Magerkeit. Ihre Zurichtung
ist kraß und auf Wirkung im Hell-Dunkel der nächtlichen Straße berechnet. Himbeerfarbene
Lippen glühen den einen im kreidigen Angesicht, während die anderen fettigen
Rosenhauch auf ihre Wangen getragen haben. Ihre Brauen sind scharf und deutlich
gewölbt, ihre Augen, durch Kohlestriche im Schnitt verlängert und am Rande des
unteren Lides geschwärzt, zeigen vermöge der Einspritzung von Drogen oft einen
übernatürlichen Glanz. Falsche Brillanten gleißen an ihren Ohren, große Federhüte
nicken auf ihren Köpfen, und in der Hand tragen alle ein Täschchen, Ridikül
oder Pompadour genannt, worin einiges Toilettengerät, Farbstift und Puder, sowie
gewisse Vorkehrungsmittel verborgen sind. So streichen sie, deinen Arm mit ihrem
berührend, auf dem Bürgersteig an dir vorüber; ihre Augen, in denen Laternenlicht
sich spiegelt, sind aus dem Winkel auf dich gerichtet, ihre Lippen zu einem
heißen und unanständigen Lächeln verzerrt, und indem
sie dir hastig-verstohlen den Lockruf des Totenvogels zuraunen, deuten sie mit
einem kurzen Seitwärts-Winken des Kopfes ins Verheißungsvoll-Ungewisse, so,
als erwarte den Mutigen, welcher dem Winke, dem Spruche folgt, dort irgendwo
ein ungeheueres, nie gekostetes und grenzenloses Vergnügen. - Thomas
Mann
, Bekenntnisse des Hochstaplers
Felix Krull. Frankfurt am Main 1965 (Fischer-Tb. 639, zuerst 1954)