eichenhalle    Als Inhaber der Leichenhalle Nächstenliebe war Herbert Schoenheit von Vogelsang gesetzlich dazu verpflichtet, sich mit dem Rechtsbeistand des verstorbenen Mr. Sarapis zu beraten, dem berühmten Mr. Claude St. Cyr. In diesem Zusammenhang war es von entscheidender Bedeutung, daß er genauestens darüber unterrichtet wurde, wie die Halbleben-Perioden verteilt werden sollten; es war seine Aufgabe, die technischen Vorkehrungen dafür zu treffen.

Eigentlich eine reine Routinesache, und doch war er von Anfang an auf Schwierigkeiten gestoßen. Es war ihm bislang nicht gelungen, sich mit Mr. St. Cyr, dem Nachlaßverwalter, in Verbindung zu setzen.

Verflixt, dachte Schoenheit von Vogelsang, als er nach einem weiteren erfolglosen Versuch den Hörer auflegte. Da kann doch irgendwas nicht stimmen; unerhört, bei einem so wichtigen Mann.

Er hatte vom Depot aus telefoniert, wo die Halblebenden im Dauerfrostpack in Kühlfächern lagerten. Vor seinem Schreibtisch wartete im Augenblick eine besorgt dreinblickende Gestalt, die irgendwie nach Geistlichem aussah, mit dem Kontrollabschnitt eines Abholscheins in der Hand. Der Tag der Auferstehung - der Feiertag, an dem die Halblebenden öffentlich geehrt wurden - stand vor der Tür; bald würde der Ansturm losgehen.

»Ja, bitte, Sir«, sagte Herb mit einem leutseligen Lächeln. »Ich nehme Ihren Abschnitt persönlich entgegen.«

»Es ist eine ältere Dame«, meinte der Kunde. »Um die achtzig, ziemlich klein und verhutzelt. Ich wollte diesmal nicht nur mit ihr reden; ich wollte sie für eine Weile mitnehmen. Meine Großmutter«, erklärte er.

»Kleinen Moment«, sagte Herb und ging ins Depot zurück, um Nummer 3054039-3 herauszusuchen.

Als er das richtige Abteil gefunden hatte, prüfte er den Ladeschein, der daran befestigt war; es waren nur noch fünfzehn Tage Halbleben verzeichnet. Automatisch preßte er einen tragbaren Verstärker in die Hülle des gläsernen Sarges, stellte ihn an und lauschte auf der richtigen Frequenz auf ein Anzeichen für Kephaloaktivität.

Leise drang es aus dem Lautsprecher:»... und dann hat sich Tillie den Knöchel verstaucht, und wir wären nie auf die Idee gekommen, daß der noch mal heilt; sie hat so ein Theater veranstaltet deswegen, sie wollte ja gleich wieder laufen ...«

Zufrieden schaltete er den Verstärker ab, suchte einen Gewerkschafter und wies ihn an, 3054039-8 zur Laderampe zu fahren, wo sie der Kunde dann in seinem Kopter oder Wagen verstauen konnte.

»Haben Sie sie überprüft?« fragte der Kunde, als er die Gebühr bezahlte.

»Höchstpersönlich«, erwiderte Herb. »Funktioniert tadellos.« Er schenkte dem Kunden ein Lächeln. »Fröhliche Auferstehung, Mr. Ford.« - Philip K. Dick, Was die Toten sagen, in: Zur Zeit der Perky Pat. Zürich 1994 (zuerst 1964)

Leichenhalle (2) Jeden Tag bringt man Erschossene und Ermordete in die Leichenhalle. Bringt sie auf Schlitten her, lädt sie am Tor ab und fährt weg.

Früher hat man gefragt — wer wurde ermordet, wann, von wem. Jetzt werden sie einfach hingeworfen. Man schreibt auf einen Zettel »Mann unbekannten Namens« und ab in die Leichenhalle.

Von Rotarmisten, Milizionären, von allen möglichen Leuten werden sie hergebracht.

Diese Visiten — morgens und abends — dauern bereits ein Jahr, ohne Unterbrechung, ohne Pause. In letzter Zeit ist die Anzahl der Leichen ins Unermeßliche gestiegen. Wenn jemand aus Langeweile fragt, antworten die Milizionäre: »Bei einem Raubüberfall getötet.«

In Begleitung des Wächters gehe ich in die Leichenhalle. Er hebt die Laken an und zeigt mir die schwarzfleckigen Gesichter von Leuten, die vor drei Wochen gestorben sind. Alle sind sie jung, von kräftigem Körperbau. Da ragen Füße in Stiefeln, in Fußlappen, nackte wächserne Füße. Gelbe Leiber sind zu sehen, blutverklebte Haare. Auf einem der Körper liegt ein Zettel: Fürst Constantin Eboli de Tricoli.

Der Wächter schlägt das Laken zurück. Ich erblicke einen gutgebauten, hageren Körper, ein kleines herausforderndes, grausiges Gesicht mit gefletschten Zähnen. Der Fürst hat einen englischen Anzug an und Lackschuhe, oben mit schwarzem Wildleder. Er ist der einzige Aristokrat in den stummen Mauern.

Auf einem anderen Tisch finde ich seine adlige Freundin, Francisca Britti. Sie hat nach der Erschießung noch zwei Stunden im Krankenhaus gelebt. Ihr wohlgeformter purpurroter Körper ist in Verbände gewickelt. Sie ist ebenfalls schlank und groß, wie der Fürst. Ihr Mund steht offen. Der Kopf ist angehoben — in unbändiger, hastiger Bewegung. Die langen weißen Raubtierzähne blitzen. Noch als Tote wahrt sie den Stempel der Schönheit und Herausforderung. Sie heult, lacht verächtlich über die Mörder. - (babel)

Leichenhalle (3)  Wir gehen bis zum Ende des Hospitals zu großen gelben Türen, auf denen in schwarzen Buchstaben geschrieben steht: Anatomiesaal. Der Wärter klopft an einer Tür. Nach einiger Zeit wird sie halb geöffnet und eine Art Metzgergeselle kommt heraus, den Nasenwärmer im Mund, ein Kopf, in dem sich ein Gladiator und ein Totengräber vermengen. Ich glaubte, den Sklaven zu sehen, der im Zirkus die Leichen der Gladiatoren in Empfang nahm. Und er nimmt ja auch die Leichen des großen Zirkus, der die Gesellschaft ist, in Empfang.

Man läßt uns warten, ehe man eine andere Türe öffnet; und während dieser Warteminuten ist unser ganzer Mut Tropfen um Tropfen verronnen, wie das Blut eines Verwundeten, der aufrecht stehen bleiben will. Das Unbekannte an dem, was wir sehen sollen, das Grauen der Bilder dringen uns ins Herz; vielleicht werden wir den armen entstellten Leichnam unter den  anderen  Leichen  heraussuchen  müssen;  die  Phantasie sucht tastend sich ein verzerrtes Gesicht vorzustellen. All das hat uns feige wie Kinder gemacht. Wir waren am Ende unserer  Kräfte, am Ende unserer Anstrengung, am Ende unserer Nervenspannung. Als die Tür aufging, sagten wir: »Wir werden jemanden herschicken!« und sind geflüchtet. - (gon)

Leichenhalle (4)   In der Leichenhalle von Rouen ist ein Mann aufgebahrt, der sich zusammen mit seinen beiden Kindern, die er sich an den Gürtel gebunden hatte, ertränkt hat. Das Elend hier ist entsetzlich. Banden von Armen beginnen in den Nächten durch das Land zu streifen. In Saint-Georges, eine Meile von hier entfernt, hat man einen Gendarmen umgebracht. Die guten Bauern fangen an, in ihrer Haut zu schlottern. Wenn sie ein wenig durchgeschüttelt werden sollten, werde ich darüber nicht weinen, dieser Stand verdient keinerlei Mitleid. Er ist von allen Lastern und allen Grausamkeiten erfüllt.  - (flb)

Leichenhalle (5)  Im Untergeschoß der Kirche befindet sich eine Leichenhalle nach der Art der Morgue in Paris, wo die Leichen der Ertrunkenen ausgestellt werden, bis sie von ihren Angehörigen abgeholt oder auf Kosten der Stadt beerdigt werden.

Bei der großen Zahl der im Zusammenhang mit dem Schiffsverkehr Beschäftigten ist diese Leichenhalle immer mehr oder weniger besetzt. Wenn ich die Chapel Street entlangging, sah ich stets eine Anzahl Leute, die sich durch das unfreundliche Gitter in der Tür die Gesichter der drinnen liegenden Ertrun­kenen anschauten. Und einmal sah ich, als die Tür offen war, da einen Seemann starr und steif ausgestreckt liegen. Der Ärmel seiner Jacke war hochgerollt, und auf seinem Arm war sein Name und Geburtsdatum eintätowiert. Es war ein eindrucksvoller Anblick. Er sah aus wie sein eigner Grabstein.

Wie man mir sagte, gab es feststehende Belohnungen für die Bergung von Leuten, die in die Docks gefallen waren, soundso­viel für Wiederbelebte und entsprechend weniger für unrettbar Ertrunkene. Dadurch angelockt, lungern beständig einige scheuß­liche alte Männer und Weiber in den Docks herum und halten Ausschau nach Leichen. Besonders früh am Morgen beobachtete ich sie, wenn sie aus ihren Schlupfwinkeln krochen, nach dem­selben Grundsatz, der die Lumpenhändler und Abfallsammler in aller Frühe unternehmungslustig auf die Straßen treibt; denn dann ist die Ernte der Nacht gereift.

Offenbar gibt es kein Unglück, das den Menschen trifft und sich nicht kommerziell ausbeuten läßt. Bestattungsunternehmer, Totengräber, Grabsteinmetzen und Leichenwagenkutscher ver­dienen sich ihren Lebensunterhalt vom Tode und haben ihre beste Konjunktur in Seuchenzeiten. Und diese jämmerlichen alten Männer und Weiber waren auf der Jagd nach Leichen, um sich selbst davor zu bewahren, auf den Friedhof zu kommen, denn sie waren die erbärmlichsten aller Hungerleider.  - Herman Melville, Redburn. Seine erste Reise. In: H. M., Redburn. Israel Potter. Sämtliche Erzählungen. München 1967 (zuerst 1849)

Leichenhalle (6)  Steht zwar drauf geschrieben mit weißen Lettern auf schwarzer Trauertafel: LEICHENHALLE - und könnte dennoch, flüchtig gesehen, ein simples Sarggeschäft sein. Ruht auch ein elfenbeinfarbener' leerer Kindersarg im Fenster. Dazu das Übliche: Wachslilien und ausgewählt schöne Sargbeschläge. Podeste, mit schwarzem Sammet beschlagen, heben Fotos von Ersteklassebegräbnissen in den Blick. Rettungsringrunde Kränze lehnen sich an. Im Vordergrund beeindruckt eine Steinurne aus der Bronzezeit, Fundort, so belehrt ein kleines Täfelchen, Coesfeld im Münsterland.

Ähnlich behutsam werden die Gäste im Lokalinnern an des Menschen Hinfälligkeit erinnert. Obgleich die Sawatzkis nicht vorbestellt haben, bekommen sie mit Matern und Hund einen Tisch nahe der aufgebahrten, bei einem Autounfall ums Leben gekommenen schwedischen Filmschauspielerin. Sie liegt unter Glas und ist natürlich aus Wachs. Eine weiße, nicht abzeichnende Steppdecke, deren pralle Ränder Spitzengewölk mildert, verhüllt die Darstellerin bis zum Nabel; doch oberhall; ist ihre linke Hälfte, von den weich wallenden Schwarzhaaren, über Wange, Kinn und behutsam ansetzenden Hals, übers kaum gezeichnete Schlüsselbein und den hoch beginnenden Busen bis zur Taille aus zwai wächsernem aber doch gelb rosahäutigem Fleisch; rechts hingegen, vor Matern und den Sawatzkis aus gesehen, wird der täuschende Eindruck erweckt, ein Seziermesser habe sie bloßgelegt; gleichfalls nachgebildet aber naturgetreu: Herz, Milz, und die linke Niere. Der Trick ist: Das Herz schlägt richtig, und immer stehen einige Gäste des Restaurants «Leichenhalle» um den Glaskasten und wollen sehen, wie es schlägt.
Zögernd, Inge Sawatzki zuletzt, setzen sie sich. Dem rundum schweifenden Auge werden in indirekt erhellten Wandnischen etliche Teile des menschlichen Skelettes, der Arm mit Elle und Speiche, der übliche Totenschädel, aber auch in großen beschrifteten Gläsern ein Lungenflügel, das Klein- und Großhirn und eine Plazenta anschaulich dargeboten, als wolle man Unterricht erteilen. Selbst eine Bibliothek zeigt griffbereit, und nicht etwa hinter Glas, Buchrücken neben Buchrücken: die einschlägige Fachliteratur, reich bebildert, zudem Anspruchsvolles für den Spezialisten, etwa Versuche auf dem Gebiet der Organ-Transplantation oder ein zweibändiges Werk Über die Hirnanhangdrüse. Und zwischen den Wandnischen, immer im gleichen Format und geschmackvoll gerahmt, hängen Fotos und Stiche nach berühmten Ärzten: Paracelsus, Virchow, Sauerbruch und der römische Gott der Heilkunde mit stützendem Äskulapstab schauen den Gästen beim Essen zu.

Es gibt nichts Außergewöhnliches: Wiener Schnitzel, Ochsenbrust mit Meerrettich, Kalbshirn auf Toast, Rinderzunge in Madeira, flambierte Hammelnieren, sogar ordinäres Eisbein und die üblichen Brathähnchen mit pommes frites. Allenfalls verdient das Gedeck nähere Erwähnung: Matern und .die Sawatzkis essen Kalbshaxe mit sterilem Sezierbesteck; die Teller umläuft rundum die Inschrift «Medizinische Akadamie - Autopsie»- (hundej)


Friedhof

 


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