Lehnsessel   Unsere Schätzung der Abmessungen der Raumstation mußte wieder einmal wesentlich revidiert werden. Die Station hat eindeutig die Dimensionen eines großen Asteroiden oder sogar eines kleinen Planeten. Unsere Meßinstrumente zeigen an, daß es Tausende von Decks gibt, von denen sich jedes meilenweit über eine gleichförmige Fläche von Passagiersälen, Wartehallen und Restaurantterrassen erstreckt. Wie zuvor gibt es kein Anzeichen von einer Besatzung oder von Überwachungspersonal. Und doch wurde irgendwie eine große Anzahl von Passagieren durch diesen planetaren Warteraum geschleust.

Beim Ausruhen in den Lehnsesseln unter dem unveränderlichen Licht bemerken wir alle, wie unser Richtungssinn rasch verlorengeht. Jeder von uns befindet sich an einem Punkt im Raum, der wohl keine präzise Lokalisierung zu haben scheint, aber überall innerhalb dieser endlosen Perspektiven von Tischen und Lehnstühlen sein könnte.  - J. G. Ballard, Bericht über eine unbekannte Raumstation. In: Phantastische Welten, Hg. Franz Rottensteiner. Frankfurt am Main 1984

Lehnsessel (2)  Sie stieg in ihr Schlafzimmer hinauf.

In diesem Augenblick vernahm sie, denn ihr Gehör war noch gut, ein gleichmäßiges Geräusch.

»Regen«, schrie die alte Dame, »und mein Lehnstuhl steht noch auf der Terrasse!«

Sie mußte wieder hinuntersteigen und das schwere Möbel in das in Ermangelung von Gästen selten benutzte Zimmer stoßen, das sie ihren Salon nannte.

Außer Atem stieg sie wieder ins Bett; aber sie war zu aufgeregt, um einzuschlafen, und als der Schlaf endlich doch kam, hatte sie einen furchtbaren Traum:

 Bei einer Mahlzeit, die nur aus Siedfleisch und Cornichons bestand, hörte sie den Regen auf ihr Dach rauschen, einen tropischen Regen, und sie wußte, daß der neue Lehnstuhl im Garten stand. In ihrem Traum sah sie sich die allzu steile Treppe hinuntersteigen und glaubte einen schrecklichen Fall zu tun. Sie fühlte sich außerstande, wieder aufzustehen, und begriff, daß sie beide Beine gebrochen hatte; außerdem waren alle Rippen gebrochen, und ihre Zähne sah sie glänzen, weit weg, gerade unter dem Lehnstuhl, der außer Reichweite im Platzregen stehen geblieben war.  - Maurice Sandoz, Der Lehnstuhl. In: M. S., Am Rande. Zürich 1967

Lehnsessel (3)  »Versuchen Sie den Sessel mit den Magnolien drauf«, sagte sie.

Sie sah nicht hin, und ich mußte ihn alleine finden. Merkwürdig, wie lange ich dazu brauchte. Es war ein Armsessel mit hoher Rückenlehne, mit geblümtem Chintz bezogen - so ein Stuhl, der vor langer Zeit einmal die Zugluft anhalten sollte, während man vor einem Kamin mit einem Kohlenfeuer hockte.

Er stand mit dem Rücken zu mir. Ich ging rüber, sanft im ersten Gang. Er stand fast der Wand gegenüber. Trotzdem war es lächerlich, daß ich ihn vorhin noch nicht bemerkt hatte, als ich von der Bar zurückgekommen war. Er lehnte in der Ecke des Sessels, mit zurückgebogenem Kopf. Seine Nelke war rot und weiß und sah so frisch aus, als hätte das Blumenmädchen sie ihm gerade eben ans Revers gesteckt. Seine Augen waren halb geöffnet, wie solche Augen es meistens sind. Sie starrten auf einen Punkt an der Zimmerdecke. Ein Geschoß hatte die Außentasche seines zweireihigen Jacketts durchbohrt. Es war von jemandem abgefeuert worden, der wußte, wo das Herz saß.

Ich berührte seine Wange, sie war noch warm. Ich hob seine Hand hoch und ließ sie fallen. Sie war ganz weich. Sie fühlte sich an wie ein menschlicher Handrücken. Ich griff nach seiner Halsschlagader. Es bewegte sich kein Blut in ihm, und ganz wenig Blut hatte sein Jackett befleckt. Ich wischte meine Hände mit dem Taschentuch ab und blieb noch eine Weile stehen - betrachtete sein stilles kleines Gesicht.  - Raymond Chandler, Die kleine Schwester. Zürich 1975

 

Sessel

 

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