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Lebenslust (2) Die Selbstpeinigung ist bei
religösen Schwärmern und Fanatikern keine seltene Erscheinung und schon seit
langer Zeit zu finden. Es sei hier an die indischen Fakire, mohamedanischen
Derwische, die christlichen Säulenheiligen und Einsiedler erinnert, an Fanatiker
wie Origenes, der, um die Sinneslust zu töten,
an sich selbst die Kastration vornahm, an die Flagellatori in Italien, die Flagellants
in Frankreich, die Flegler in Deutschland. Ueber die letztere seltsame Erscheinung
schreibt Scherr: „Die namenlose Rohheit der religiösen Vorstellungen,
verbunden mit der Lockerheit der Sitten, welcher sich das höllische Strafgericht
drohend in der Ferne zeigte, hatte die Kasteiung des Fleisches durch Geisselung,
wie sie insbesondere durch die Bettelorden gangbar gemacht worden war, zu einem
beliebten Sündentilgungsmittel erhoben. Es wurde zuerst in Italien
in grossem Stile angewandt, indem dort im Jahre 1620 lange Züge von Büssenden
erschienen, welche bis zum Gürtel nackt, mit verhüllten Häuptern unter Anstimmung
von Busspsalmen einherwandelten und sich bis aufs ßlut geisselten. Der Beginn
dieses Flagellantismus im grossen, der Anfang der "Geisselfahrten"
kann mit Wahrscheinlichkeit auf den 1231 gestorbenen Heiligen
Antonius von Padua zurückgeführt werden. - (
hel
)
Lebenslust (3) Am 16. August 1866 fand man meinen Vater ermordet in seiner Badewanne. Meine Mutter wurde von Krämpfen befallen, kam vorzeitig nieder und starb. Und ich, ich kam, nach der Schloßuhr, die gerade zwölf schlug, drei Monate zu früh auf die Welt.
Die ersten hundert Tage meines Lebens habe ich in einem überheizten Brutkasten
verbracht, schon damals von dieser unerträglichen Fürsorge umgeben, die mich
auf allen meinen Wegen begleiten sollte und mir Frauen und Gefühle verhaßt gemacht
hat. Später, im Schloß von Fejervar, im Gefängnis von Preßburg, hier in meinem
Haus in Waldensee waren es dann Diener und Soldaten, Gefängniswärter und Krankenpfleger,
lauter Söldlinge, die mir die gleiche Fürsorge im Übermaß zukommen ließen, ohne
daß es ihnen gelungen ist, mich fertigzumachen. Das alles geschah im Namen des
Kaisers, der Gerechtigkeit, der Gesellschaft. Können sie mich denn nicht in
Ruhe lassen und mich leben lassen, wie es mir paßt? Wenn meine Freiheit irgendwen
oder meinetwegen alle Welt stört, dann sollen sie mich doch abknallen, das ist
mir immer noch lieber. Übrigens ist mir das alles ganz egal, das oder das oder
das, ob ich hier oder anderswo bin, frei oder gefangen. Wichtig ist nur, man
fühlt sich glücklich. Man lebt einfach nach innen statt nach außen, die Intensität
des Lebens bleibt dieselbe, und ich kann Ihnen sagen, es ist erstaunlich, wo
die Lust am Leben sich manchmal einnistet.
- (
mora
)
Lebenslust (4) Wie durch einen Zauberschlag stand über
das in seinen Grundfesten erschütterte Frankreich, über ganz Holland und Deutschland
und weit darüber hinaus, eine freche verbrecherische Verbrüderung da, wie sie
die Geschichte nicht weiter aufzuweisen hat. In einem großen Ganzen und in einer
fast zahllosen Verteilung über das weite Territorium verbreitet, in sich geschlossen
und beweglich, hartnäckig und flüchtig, handelte sie mit roher Gewalt und mit
der feinsten Kunst und Berechnung. Sie kämpfte mit dem Mut der Verzweiflung
um das Leben und frönte der Lebenslust bis auf die Hefe und bis zur eigenen
Vernichtung. Reichtümer wurden zusammengeraubt und in wahnsinnigem Genuß verschleudert,
und mit der Armut unzufrieden und selbst den eigenen Besitz verachtend, wurden
in rasender Tatenlust unmenschliche Handlungen begangen, das geächtete Leben
hundertfach in die Schanze geschlagen und aus Angst vor Kerker und Schaffot
um jeden Preis für das Leben, geraubt, gemordet. -
(ave)
Lebenslust (5) Ich erinnere mich an den Sommer, als ich
acht Jahre alt war. Da lief ich splitternackt in den warmen Regen hinaus, lief
einfach so dahin, gab völlig unsinnige Laute von mir, lachte, als wäre ich übergeschnappt,
während Schlamm zwischen meinen Zehen aufspritzte. Und rund um mich glänzten
die alten Apfelbäume im Regen. Ich konnte überhaupt nicht mehr aufhören. Ich
kam zu einem Kornfeld, blieb stehen, warf den Kopf zurück und schloß die Augen,
während mir der Regen über das Gesichtl lief. Ich versuchte die Tropfen zu schlürfen,
fühlte mich wunderbar erregt und glücklich und auch etwas verrückt, als ich
dann meine Hände zwischen meine Beine legte. - Nell Kimball, Madame
- Meine Mädchen, meine Häuser. Hg. Stephen Longstreet. Frankfurt am Main, Wien und
Berlin 1982 (entst. ca. 1917-1932)