Lebensgeschichte   Der Doktor sagt: »Die schlimmste Zeit ist so gegen halb sechs oder sechs. Wenn ich um diese Zeit nach Hause komme, meine ich, alle Möbel hätten eine graue Patina angesetzt, mit der alles erbärmlich aussieht. Ich mache alle Lichter an, und ich habe mir sogar diese Halogenlampen gekauft, aber so stark ich auch alles beleuchte, die graue Patina auf den Möbeln und auf den Sesseln bleibt. Mitunter habe ich den Eindruck, es sei der Staub der Dinge, der aus der Ewigkeit hierher kommt, aber meine Putzfrau sagt, sie putze jeden Tag.«

Das Wohnzimmer ist sehr geräumig, hat indirektes Licht und große, weiche Ledersofas. Der Doktor ist ein Mann mittleren Alters mit schütterem Haarwuchs und zerzausten Haarbüscheln an den Schläfen. Je mehr Leute man in der Stadt kennt, so sagt er, desto fremder fühlt man sich, und da er fast alle kennt, fühlt er sich wie ein Eskimo. Obendrein hat ihn ein Mädchen verlassen, das eines Tages zu ihm sagte: »Mit dir leben ist wie schon gestorben sein.«   - Gianni Celati, Der wahre Schein. Berlin o. J. (zuerst 1987)

Lebensgeschichte (2)  Sie erzählt die Geschichte von ihrem Mann, der Bicchi heißt, und von seiner Liebe zu einer Frau, die er immer an einer Tankstelle auf der Autobahn sieht. Wenn er abends mit seinem kleinen Lastwagen vorbeifährt, steht diese Frau immer in der Bar und raucht und betrachtet durch das Fenster den Widerschein der Neonlampen auf dem Vorplatz. Und da sie Marlborozigaretten raucht und Bicchi ihren Namen nicht weiß, nennt er sie »die Frau, die Marlboro raucht«, und er spricht nur noch von der Frau, die Marlboro raucht, und sonst tut er nichts. Eines Abends sagte nämlich sein Kollege vor ihm: »Für die wüßte ich schon die richtige Zigarette«, und Bicchi versuchte ihn zu erwürgen. Daraufhin lösten sie das Reinigungsunternehmen auf, das sie zusammen führten, und nun ist Bicchi wegen der Frau, die Marlboro raucht, arbeitslos geworden.  - Gianni Celati, Der wahre Schein. Berlin o. J. (zuerst 1987)

Lebensgeschichte (3)  Tanzen hat mir immer mächtig Spaß gemacht, als junges Ding hatte ich überhaupt nichts anderes im Kopf; und es gab da einen Jungen, der tanzte einfach himmlisch, kann ich Ihnen sagen! Wir haben sogar mal einen Silberpokal gewonnen für den Walzer, den wir zusammen tanzten. Lange Zeit hatten wir sogar die Absicht, zusammen durchzubrennen und zur Bühne zu gehn. Vaudeville. Aber das war natürlich nur so ein kindlicher Traum. Er ging in eine andere Stadt, und eines Tages heiratete ich Walter, und Walter Hickock konnte nicht tanzen. Er sagte, wenn ich einen Berufstänzer wollte, dann hätte ich einen vom Varieté heiraten sollen. Und dann hat niemand mehr mit mir getanzt.  - (cap)
 
 

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