ebensform  Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. — Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzähliges Andere. — Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.  - (wit)

Lebensform (2) Vgl. Ibn Khaldun, Ausgewählte Abschnitte aus der muqaddima, Tübingen 1951. Eines der Hauptthemen dieses Meisterwerks ist das soziologische Problem des "Korpsgeistes" und seine Zweideutigkeit. Ibn Khaldun stellt der seßhaften oder städtischen Lebensweise das Beduinentum gegenüber (nicht als Ethnie, sondern als Lebensform). Der erste Aspekt dieser Gegenüberstellung ist das umgekehrte Verhältnis von öffentlich und geheim: es gibt nicht nur ein Geheimnis der beduinischen Kriegsmaschine im Gegensatz zur Öffentlichkeit des Stadtbewohners im Staat, sondern im ersten Fall beruht das "Ansehen" auf einer geheimen Solidarität, während im zweiten das Geheimnis den Erfordernissen des gesellschaftlichen Ansehens untergeordnet wird. Zweitens bringt das Beduinentum eine ausgeprägte Reinheit und Mobilität der Sippen und ihrer Genealogie ins Spiel, während die städtische Lebensform zu sehr unreinen und zugleich rigiden und starren Abstammungslinien führt: die Solidarität hat an jedem Pol eine andere Bedeutung. Drittens, und das ist entscheidend, mobilisieren die beduinischen Abstammungslinien einen Korpsgeist und integrieren sich in ihn als neue Dimension: das ist asabijja oder ikhtilat, woraus das arabische Wort für Sozialismus abgeleitet wird (Ibn Khaldun betont das Fehlen einer "Macht" des Stammesführers, der über keinerlei staatliche Zwangsmittel verfügt). In der städtischen Lebensform dagegen wird aus dem Korpsgeist eine Dimension der Macht, die von der "Autokratie" übernommen wird.  - Deleuze / Guattari, Tausend Plateaus. Berlin 1992 (zuerst 1980)

Lebensform (3)   Meinen Vater faszinierten die Grenzformen, so dubiose und problematische Formen wie das Ektoplasma der Somnambulen, die Pseudomaterie, die kataleptische Emanation des Gehirns, die sich in manchen Fällen von den Lippen eines in Schlaf Versetzten über den ganzen Tisch breitete und das ganze Zimmer wie ein schwebendes, hauchdünnes Gewebe ausfüllte, astraler Teig, an der Grenze zwischen Körper und Geist.

»Wer weiß«, sagte er, »wie viele leidende, verkrüppelte, fragmentarische Erscheinungsformen des Lebens es gibt, etwa das künstlich zusammengeleimte, mit Nägeln grob zurechtgezimmerte Leben der Schränke und Tische oder das des gekreuzigten Holzes, der stillen Märtyrer grausamer menschlicher Erfindung. Die furchtbaren Transplantationen fremder und sich hassender Baumarten, die zu einer einzigen unglücklichen Persönlichkeit zusammengeschmiedet werden.

Wieviel altes, weises Leid ist in den gebeizten Jahresringen, Adern und Maserungen unserer alten, vertrauten Schränke. Wer wird darin die alten, glattgehobelten, bis zur Unkenntlichkeit herauspolierten Züge, das Lächeln und die Blicke erkennen!«

Während er so sprach, verlief sich das Gesicht meines Vaters in eine gedankenverlorene, faltige Lineatur, es sah schon aus wie die Fladern und Astlöcher alter Bretter, aus denen alle Erinnerung fortgehobelt war, Wir dachten kurz, mein Vater werde in den Zustand der Erstarrung verfallen,der ihn mitunter heimsuchte, doch plötzlich schreckte er auf, kam zur Besinnung und fuhr fort:

»Die mystischen Volksstämme von damals balsamierten ihre Toten ein. Dann wurden sie in die Wohnungswände eingearbeitet, ihre Körper und Gesichter eingemauert; im Salon stand ein ausgestopfter Vater, seine gegerbte verstorbene Frau war der Teppich unter dem Tisch. Ich kannte einen Kapitän, der in seiner Kajüte eine Melusine als Lampe hatte, die von malaiischen Balsamierern aus seiner ermordeten Geliebten gefertigt worden war. Auf dem Kopf hatte sie ein riesiges Hirschgeweih.

In der Stille der Kajüte hob der zwischen den Geweihstangen an der Decke befestigte Kopf langsam die Augenwimpern; zwischen den halbgeöffneten Lippen glitzerte ein Speichelfilm, der beim leisen Flüstern riß. Kopffüßler, Schildkröten und Riesenkrabben, die am Deckengebälk als Kronleuchter und Kandelaber aufgehängt waren, strampelten in der Lautlosigkeit unaufhörlich mit den Beinen, traten in einem fort auf der Stelle.« - — — -Das Gesicht meines Vaters überzog sich mit dem Ausdruck von Sorge und Kümmernis, während seine Gedanken auf den Umwegen unbekannter Assoziationen zu neuen Beispielen übergingen:

»Soll ich es verschweigen«, sprach er mit gedämpfter Stimme, »daß sich mein Bruder infolge einer langwierigen und unheilbaren Krankheit allmählich in einen Ballen Gummidärme verwandelt hatte, daß meine arme Cousine ihn Tag und Nacht auf einem Kissen umhertrug und dem unglückseligen Geschöpf die endlosen Wiegenlieder der Winternächte vorsummte? Kann es etwas Traurigeres geben als einen Menschen, der in einen Klistierschlauch verwandelt wurde? Welch eine Enttäuschung für die Eltern, welch eine Irreführung ihrer Gefühle, welch Zersplittern aller Hoffnungen, die man in den vielversprechenden Jüngling gesetzt hatte! Und dennoch begleitete ihn die treue Liebe der armen Cousine auch bei dieser Verwandlung

»Ach! Ich halte es nicht länger aus, ich kann das nicht mehr hören!« stöhnte Polda und beugte sich auf dem Stuhl vor. »Bringihn zum Schweigen, Adela.« ----------   - Bruno Schulz, Traktat über die Schneiderpuppen - Schluß. Nach (bs2)

Lebensform (4)  In der Oberfläche der Gegenwart (wahrscheinlich jeder Gegenwart) zu leben scheint mir widerwärtig. Die menschlichen Lebensformen mit ihrer Blindheit, mit ihrer Unwissenheit, mit ihrem Unwissend-bleiben-Wollen sind völlig verächtlich. So auch die Lügengewebe der Gesellschaft, die über irgendeinem Winkel ihre Spinnennetze ausbreitet, Fallen, in denen Beute gefangen wird; diese Fallen werden dann »Gesellschaft« genannt. - Ernst Fuhrmann, Vorwort zu (fuhr)
 

Natur Leben Leben

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