ebenselixier »Die Leute sind da nämlich ganz und gar stumpfsinnig geworden«, sagte die Gräfin Clarissa vom Rabenstein, »die Europäer leiden momentan an der sogenannten Massen-Idiotie. Wenn man einen Europäer mit dem Kopf gegen eine harte Wand stößt, so sagt er immer: Was bullert denn da?«

Da rief der Kaiser von Anam lachend:

»Das müssen ja furchtbar lustige Zustände in Europa sein. Ja — ja — ich hab's ja immer zu meiner Umgebung gesagt: Aus Europa kann noch mal was Gutes werden. Aber, meine gnädigste Gräfin, wir in Anam sind nicht so — abgebrüht; wir können uns noch wundern, und wir können auch noch das Wunderbare verehren. Das Wunderbare ist ja immer in Hinterindien sehr beliebt gewesen. Vor acht Tagen sagte ich noch zu meinem Freunde, daß ich gern hundertundfünfzig Jahre alt werden möchte, um meinen Untertanen passable Lebensverhältnisse zu schaffen. Und nun habe ich das Glück, den Baron Münchhausen persönlich kennen zu lernen — und der ist schon hundertundachtzig Jahre alt. Wie ist das möglich? Erzählen Sie, Herr Baron! Ich vergehe vor Neugierde. Ich möcht Ihnen alles nachmachen. Ich möchte auch so alt werden wie Sie. Ich bin für Sie begeistert. Sie können hier in Hinterindien alles von mir haben, was Sie wollen. Denken Sie an meine armen Untertanen! Wie würden die sich freuen, wenn ich auch so alt würde - wie Sie, Herr Baron! Erzählen Sie mir alles! Lassen Sie mich nicht länger bitten. Ich lege Ihnen mein halbes Kaiserreich zu Füßen.«

»Das nimmt er nicht an!« rief da lachend die Gräfin, »denn wir haben keine Zeit zum Regieren; wir müssen überall Geschichten erzählen

»Na«, sagte der Kaiser, »ich will ja auch nicht gleich mein halbes Reich loswerden. Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht beim Worte nehmen. Ober-Schatzmeister, bringen Sie der Gräfin ein Dutzend kinderfaustgroße Smaragde.«

Der Ober-Schatzmeister gab sofort seinen Unterbeamten den Auftrag, die Smaragde umgehend herbeizuschaffen.

Und der Baron Münchhausen sprach nun so: »Ehrwürdiger Beherrscher der Anamiten, der Sie diesen ein guter Vater sind, was Sie mich fragen, ist sehr einfach zu beantworten:

Der sogenannte Humor vermag ganz allein unser Leben zu verlängern. Andere Mittel gibt es nicht; andere Mittel habe ich auch niemals angewandt.«

»Der Humor?« rief nun der Kaiser, »wie ist das möglich? Erklären Sie sich deutlicher.«

»Das will ich gern tun«, versetzte der Baron ganz langsam, »Sie werden es nicht bestreiten, wenn ich behaupte, daß nur der Ärger den Menschen älter macht. Wer aber hat keinen Ärger? Doch nur derjenige, der allezeit einen guten Humor bei sich hat. Wer seinen Humor nicht verliert, kann sich nicht ärgern. Ich sehe, daß Sie mir zustimmen. Nun weiter, Majestät! Außer dem Ärger gibt es noch eine zweite Plage, die den Menschen älter macht: Die Langeweile! Und da muß ich nun auch sagen, daß demjenigen, der immer seinen Humor bei sich hat, die Langeweile eine ganz unbekannte Sache bleibt. Ich sehe abermals, daß Sie mir zustimmen, Majestät. Nun hätte ich Ihnen nur noch zu erklären, wie Sie zum guten Humor kommen — dann hätten Sie das Lebenselixier in der Hand.«

»Ja«, flüsterte der Kaiser, »dann hätte ich das Lebenselixier in der Hand.«

Die Unterbeamten des Ober-Schatzmeisters brachten der Gräfin Clarissa vom Rabenstein die zwölf kinderfaustgroßen Smaragde; sie bedankte sich beim Kaiser aufs herzlichste, steckte die edlen Steine in die Tasche, und der Baron fuhr fort:

»Der Humor vernichtet den Ärger und die Langeweile. Und da diese das Leben verkürzen, so vermag der Humor, durch Vernichtung dieser beiden Lebensverkürzer, das Leben zu verlängern. Das ist ohne weiteres einzusehen; ich sehe, daß auch Eurer Majestät Umgebung diese Geschichte vollkommen versteht.«  - Paul Scheerbart, Das große Licht. Gesammelte Münchhausiaden. Frankfurt am Main 1987 (st 1400, zuerst 1912)

Arzneimittel Elixier
Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe
Verwandte Begriffe
Synonyme