Lebensdauer  Sterben! Wie stirbt man? Heute bin ich aus meinem kurzen Schlaf mit einem Satz auf den Lippen erwacht, dessen Bedeutung ich nicht zu erfassen vermag:

Geburt und Tod sind gleichen Ursprungs.

Was kann das heißen? Ist vielleicht der dumpfe Schmerz des Todes oder eine verborgene Identität zwischen diesen beiden einzigartigen Ereignissen gemeint? Wohl eher soll es heißen, daß es auch hier darum geht, den Weg zu finden, ja die Pforte zum Tod. (Doch ist Sterben ein Tun oder ein Erleiden? Mein Gott, es kann das eine oder das andere sein.) Nun ja, eine schöne Erklärung! Was für ein entsetzlicher Wirrwarr in meinem Kopf! Nichts verstehe ich mehr von mir und von ... — von der Welt kann ich gewiß nicht sagen: von mir und dem Rest.

Und gestern erwachte ich mit einem anderen Satz:

Wenn wir schon nach dem Schlaf so erquickt aufstehen, mit welch neuen Kräften werden wir erst aus dem Tod erwachen?

Und was heißt das nun? Welche Verbindung hat es zu dem ersten Satz? Was weiß denn ich! Trotzdem, allein um meiner Geistesverwirrung Herr zu werden, um meinen Verstand zu beschäftigen (doch das stimmt nicht — aus einem anderen Grund, nämlich weil dies Worte der Hoffnung sein möchten), habe ich lange über diese beiden Sätze — erst angeregt, dann losgelöst von ihnen — gegrübelt.

Wenn wir nach dem Schlaf aufstehen ... Der Gedanke und der Vergleich sind sicherlich nicht originell, doch geht man darüber hinaus, kann man sozusagen wissenschaftliche Betrachtungen anstellen. Mit anderen Worten: Wenn gesagt wird, der Schlaf sei ein Abbild des Todes, oder umgekehrt, der Tod nur ein Schlaf, wie dies alle Glaubenslehren beinhalten, handelt es sich dabei lediglich um ein Bild der Poesie, von Wert allein in dieser höchsten Sphäre, diesem strittigsten und unklarsten Schaffensbereich des Menschen. Wenn man den Gedanken hingegen auf die Physiologie anwendet und diese in der umfassenden Sicht der Philosophen und Dichter begreift, wenn man also, kurz gesagt, den Tod nicht gleich im übertragenen, sondern im eigentlichen Sinne betrachtet, als abendliches Ausruhen nach dem irdischen Tag, der zu Erschöpfung führt und es notwendig macht, unsere körperlichen und geistigen Kräfte zu erneuern, kann man zu folgenden Ergebnissen kommen:

Setzt man siebzig  Jahre, also grob gerechnet fünfundzwanzigtausend Tage als durchschnittliche Dauer des menschlichen Lebens an, käme man für das, was diesen Namen eher verdiente, auf eine Million siebenhundertfünfzigtausend Jahre. Doch wäre dieses Hunderttausende von Jahren dauernde Leben nicht wiederum als Tag eines noch umfassenderen Lebens zu betrachten, das dann dreiundvierzig Milliarden siebenhundertfünfzig Millionen Jahre lang wäre? Auf diese Art kann man, wenn schon nicht bis ins Unendliche, so doch bis ins Unbestimmbare fortfahren. Umgekehrt (denn Parallelität, eigentlich eine ganz und gar willkürliche Dimension, scheint die unverzichtbare Grundbedingung unserer Hypothese) könnte man, wenn man den entgegengesetzten Weg geht, in unseren vierundzwanzig Stunden eine unbestimmte Anzahl von Toden zählen, denen ihrerseits zeitlich gedrängte, doch deshalb nicht weniger vollständige Leben oder ineinandergreifende Lebenszyklen vorangehen; Zeiten des Todes und des Schlafes, jener langen und kurzen Unbewußtheit also, in denen Geist und Körper neue Lebenskraft schöpfen. Daraus ergäbe sich die schöne Vorstellung, daß die kurzen Tage wie die Zeitalter, all die Einheiten, in denen der Mensch rechnet, Schritte auf dem Weg zu höchster Vollendung sind. Alle sind sie Teile des großen Ganzen, alle gemeinsam bilden sie ein vollständiges Menschenleben, das erst dann moralisch bewertet werden kann, wenn es endgültig abgeschlossen ist ...  - Tommaso Landolfi, Cancroregina. Die Krebskönigin oder Eine seltsame Reise zum Mond. Zürich 1997

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