Leben, neues  Alle, die ihn als jungen Mann gekannt hatten, behaupteten steif und fest, daß dieses hemmungslose Temperament keinerlei Hindernisse, Rücksichten oder Skrupel gekannt habe. Er sprach mit unheilbar Kranken voll Genugtuung über ihren bevorstehenen Tod, Beileidsbesuche benützte er dazu, vor der konsternierten Familie das Leben des Toten, um den man noch weinte, einer scharfen Kritik zu unterziehen. Menschen, die peinliche und heikle persönliche Angelegenheiten zu verbergen suchten, brachte er diese laut und höhnisch in Erinnerung. Doch eines Nachts kehrte er völlig verwandelt und halb verrückt von einer Reise zurück und wollte sich unter dem Bett verstecken. Etliche Tage später verbreitete sich innerhalb der Familie die Nachricht, daß Onkel Hierony-mus allen seinen verwickelten, zweifelhaften und riskanten Geschäften, die ihm über den Kopf zu wachsen drohten, entsagt, auf der ganzen Linie und definitiv entsagt und ein neues Leben begonnen habe, ein Leben nadi einer strengen und harten, wenngleich uns allen unverständlichen Regel.

Am Sonntagnachmittag kamen wir regelmäßig alle zu Tante Retycja auf einen kleinen Familienplausch. Onkel Hieronymus erkannte uns nicht. Er saß im Erker und warf der Versammlung durch die Glastür wilde und bestürzte Blicke zu.  - Bruno Schulz, Dodo. In: B. S., Die Zimtläden und alle anderen Erzählungen. München 1966

Leben, neues (2)

Leben, neues (3)  Rottenkopfs neues Leben. Schon wieder einmal eines von Rottenkopfs neuen Leben.

In der Kleiderkammer der Brauerei gab es umfassende Schürzen, Mützen, Gummistiefel und langärmelige Handschuhe aus grobem Leinen, sogenannte Fäustel, die nur für den Daumen ein extra Loch besaßen. Rottenkopf mit seinen einhundertundfünfundneunzig Zentimetern Körperhöhe, die ich gerne gehabt hätte, seinen Schultern wie ein Brauereiarbeiter, seinen Händen wie zwei Clodeckeln so groß, paßte die Montur, Tunfisch hingegen preßten sich die Stiefelschäfte in die Hoden, die Schürze reichte ihm bis auf die Schuhe und stieß oben ans Kinn, in den Handschuhen sucht Tunfisch vormittagelang nach seinen zierlichen Fingern.  - (baer)

Leben, neues (4)  Rottenkopf lernt ein neues Mädchen kennen und seine dem Ende zugehende Freundin läßt sich jeden Mittag in der Mensa erzählen, wie es mit dem neuen Mädchen ist und was es macht. Morgens muß Rottenkopf die Kotze vom Vorabend wegwischen. Er hat die Idee gehabt, ein neues Leben zu beginnen und zu diesem Zweck möglichst weit aus der Stadt zu ziehen. Seine Freunde haben ihn gleich gewarnt und jetzt kostet es ihn jede Nacht Überwindung nach Offenbach zu gelangen. Dort übergibt er sich jeweils. Sein neues Verhältnis geht ihm herbstlich nahe. Jeden Abend, wenn er das Mädchen, das verheiratet ist, in die Arme seines bis Mitternacht arbeitenden Ehemannes zurückgebracht hat, muß er noch einen Schnaps trinken und noch einen, bis er sich abermals besoffen hat.

Er hat das Mädchen in einem Spielwarenladen kennengelernt, wo er mit zwei anderen Studenten Spielzeug verkauft. Sie bauen elektrische Eisenbahnanlagen und lassen Züge entgleisen. Täglich muß eine Elektrolok zur Reparatur ins Werk gebracht werden. Das Mädchen streift ihn beim Vorbeigehen mit dem Rock. Also lädt er sie ein, mit ihm zu kommen, obwohl er weiß, daß sie schon einen Mann hat. Nach dem Aufwischen pißt Rottenkopf zumeist noch in den kalten Ofen, um gegen die Hausordnung zu protestieren.  - (baer)

 

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