Leben nehmen   Wie will sich ein Mensch aufbauen, ohne aus dem zu schaffen, was schon in vielen andren enthalten war? Das Besondre in jedem einzelnen ist ein Winziges, das noch endlose Zeiten durch Geschlechter wandeln muß, um ein Herrschendes zu werden, aber dieses Besondre ist auch nicht, ohne schon von der Natur vor dem Menschen angebahnt zu sein. Die Nahrung des Körpers also ist nicht zu entbehren, auch nicht in allen ihren Besonderheiten.

Der Mensch, von dem wir essen, kann sein wie ein Tier, das seine Milch gibt. Es kann sein, daß das Besondre nicht täglich aus ihm fließt, sondern eben von seinem Herzen bis zum äußersten festgehalten wird, ohne erneut aufgehen zu können. Manches Wesentliche gibt er nur mit seinem Leben preis. Aber es ist nicht die Sache des Menschen, Samen vom Keimen und Wachstum in sich abgeschlossen zu halten, sondern daß der Mensch wächst, ist das Wesentliche über allem. Am Nichtwachsen des Menschen scheitern die Zeiten, brechen ohne Inhalte leer zusammen und sind nicht gewesen. Nur aus Unwesentlichem kann man ihren Gang rekonstruieren. Deshalb wird das Werden des Menschen auch weiter ein großer Kampf sein und das, was man Liebe genannt hat, kann nur im Zeichen dieses Kampfes geschehen. Dieser Kampf kann nur gedeihen, wenn es allein auf das Wachsen ankommt. Wer in irgendeiner Weise einen Menschen tötet, ist wie ein Tor, der ein Glas zerschlägt, ohne getrunken zu haben. Der Mensch, dem man vom edelsten Keim seines Wesens nimmt, wird nicht gehindert, dieses gleiche mit neuer Mühe zu bauen, denn wenn das Werden schon in ihm war, so kann es nur durch das Fortnehmen wieder angeregt werden. Würde aber ein Mensch dem andren das Leben wahrhaft nehmen - wie sollte jemand etwas dagegen einwenden? Das Leben, das übernommen wird, kann nicht weniger sein als vorher. Man stelle sich zu Zeiten natürlichen Unglücks einen Menschen vor, der das Leben aus vielen, die die Natur blind an einem Ort untergehen läßt, in sich aufnimmt. Er würde seinen Weg gehen und diese vielen Leben wieder von sich ausgehen lassen - wie unerhört groß würde uns ein solcher geistiger Träger der Leben scheinen? - Ernst Fuhrmann, Was die Erde will. Eine Biosophie. München 1986 (zuerst 1930)

Leben Nehmen

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