eben, literarisches    Heute abend war ich Mitwirkender in einer kleinen Szene, die ein schönes Beispiel für die literarische Eitelkeit und für die Selbsttäuschung ist, die sie mit sich bringen kann. Anlaß war ein Satz meiner Theaterkritik in der Nouvelle Revue Française vom 1. Januar 22. Er stand nach kritischen Äußerungen über bestimmte Schriftsteller und lautete: «Was sind sie - sie und viele andere - neben jenem Schriftsteller, dem Feinfühligkeit, höhere Intelligenz, Ungezwungenheit des Ausdrucks und innere Freiheit in so wunderbarem und vollkommenem Maße eignen, den ich nicht nennen will und der mir ein so tiefes Vergnügen bereitet hat, daß ich der einzige sein möchte, der ihn kennt.»

Um sechs Uhr war ich vor der Konditorei Ecke Rue de Grenelle und Place de la Croix-Rouge mit Frau... verabredet. Ich stand da und wartete, drehte mir eine Zigarette und sah mir mechanisch die Auslagen an; als ich aufblicke, sehe ich Gide und Jacques Rivière in der Konditorei drinnen. Gide winkt mich hinein. Ich wehre mit der Hand ab. Die beiden kommen heraus. Wir begrüßen uns, danach bedeutet Gide Riviére, uns allein zu lassen, nimmt meinen Arm und sagt zu mir: «Wissen Sie, mein lieber Léautaud, ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet... Mich hat das sehr gerührt... Es war für mich eine sehr angenehme Überraschung ...» Ich verstand gar nicht und fragte: «Was denn nur?...» Er fährt fort: «Aber Ihre letzte Theaterkritik natürlich... Der Satz, in dem Sie von einem Schriftsteller sprechen, den Sie nicht nennen wollen... Wissen Sie nicht mehr?...» Ich verstand noch immer nicht und fragte: «Also, was denn?...» Er fährt immer einschmeichelnder fort (und nimmt meinen Arm immer fester): «Sollte ich mich denn täuschen?... Ganz sicher war ich ja nicht, doch Rivière hat zu mir gesagt: Aber natürlich bist du das. Ich bin doch gemeint, nicht wahr?» Wie sollte ich mich verhalten? Ich wußte nicht aus noch ein. Mir war ebensosehr nach Lachen zumute, wie ich verlegen war. Nein sagen? Das hätte eine äußerst peinliche Lage geschaffen. Andererseits: ja sagen? Doch eben das habe ich getan: ein geflüstertes, ausweichendes, verlegenes, schüchternes, fast auch gereiztes Ja. Es gab keine andere Möglichkeit. Gide fuhr darauf fort: «Um so zartfühlender, als Sie mich nicht genannt haben... Wirklich, das hat mich sehr gerührt.» Ich schob dann meine Verabredung vor, und wir haben uns getrennt - meine Erleichterung war groß. - (leau)

Leben, literarisches  (2)    »Boileau ist ein größerer Dichter als Racine«, ruft Saint-Victor. »Bossuet schreibt schlecht«, behauptet Flaubert.

Renan und Taine stellen La Bruyère unter La Rochefoucauld. Wir stoßen ein Pfauengeschrei aus.

»Dem La Bruyere mangelt's an Philosophie«, rufen sie.

»Was heißt das überhaupt?«

Renan führt Pascal ins Feld, den er für den größten Schriftsteller in französischer Sprache erklärt. — »Pascal? Das reinste Arschloch!« schreit Gautier.

Saint-Victor deklamiert etwas von Hugo. Taine sagt: »Das Einzelne verallgemeinern, darauf beruht der ganze Schiller. Das Allgemeine vereinzelnen, das ist der ganze Goethe

Man rauft sich über die Ästhetik, man findet bei den Rhetorikern Genie, es setzt homerische Kämpfe um den Wert der Wörter und die Musik der Sätze. Dann zwischen Gautier und Taine . . . Sainte-Beuve blickt sie schmerzlich und beunruhigt an. Alle reden und aus allen Mündern schwirren Bekenntnisse zum Atheismus, Stücke von Utopien, Fetzen von Versammlungsreden, Systeme, um die Religion zu nationalisieren. Und ich werde Zeuge des schönen Schauspiels, wie Taine, der soeben am Fenster gekotzt hat, sich umwendet und noch ganz grün, mit Fäden von Ausgekotztem im Bart, eine ganze Stunde lang bei aller Übelkeit die Überlegenheit seines protestantischen Gottes doziert. - (gon)

Leben, literarisches  (3)    Kleine Autoren, die sich mit kleinen Rezensenten herumbeissen, sehen aus wie Bettelleute, die sich lausen.   - (idg)

Leben, literarisches  (4)  Die "Gruppe 63" traf mehrmals im Jahr zusammen, um sich gegenseitig neu entstandene Texte vorzulesen, ein Verfahren, das man von der deutschen »Gruppe 47« übernommen hatte, allerdings mit einer charakteristischen Variation: Während bei uns die Autoren dazu verdammt waren, sich die Kritik ihres Textes schweigend anzuhören, beteiligten sich in Italien die Autoren an der Kritik, gaben obszöne Widerworte, beleidigten ausführlich die Kritiker und drohten hie und da auch einmal kleinere Handgreiflichkeiten an. Eine sehr gestenreiche, heftige und auch heitere Angelegenheit.  - Klaus Wagenbach, Nachwort zu: Giorgio Manganelli, An künftige Götter. Berlin 1983

Leben, literarisches  (5)   Sekretärinnen (die ich nicht als leichtgeschürzt bezeichnen möchte, da ihre Haut lediglich von aufgemalten Op-Art-Mustern bedeckt war) trugen den Redakteuren des Knopf-Verlags die griffbereiten Nargilehs und Wasserpfeifen nach, worin eine Modemischung aus LSD, Marihuana, Yohimbin und Opium brannte. Wie ich erfuhr, hatten die Vertreter der Befreiten Literatur soeben den Postminister der USA in effigie verbrannt; dieser verlangte nämlich in seinem Amtsbereich die Vernichtung allen Werbematerials für Massen-Blutschänderei. Unten in der Hall angelangt, benahmen sie sich sehr ungehörig, zumal wenn man den Ernst der Lage bedenkt. Kein öffentliches Ärgernis erregten nur diejenigen, die schon ganz erschlafft waren oder im Drogenrausch dahindämmerten. Die anderen belästigten die Hotel-Telefonistinnen, deren Geschrei aus den Zellen herübertönte, während ein Dickwanst im Leopardenfell mit erhobener Haschischfackel zwischen den Kleiderschragen der Garderobe wütete und alles dortige Personal anfiel. Mit Mühe bändigten ihn die Rezeptionsangestellten, unterstützt von den Pförtnern. Vom Treppenabsatz aus warf uns jemand gebündelte Farbfotos an den Kopf, die genau belegten, was zwei oder auch beträchtlich mehr Personen unter dem Einfluß der Brunst miteinander anfangen können.   - Stanislaw Lem, Der futurologische Kongress. Frankfurt am Main 1996

Leben, literarisches  (6)  Der totale Zwang, alles und jedes sogleich in eine Nützlichkeit zu bringen, erschreckt mich. Soweit ist es gekommen? Ja, soweit ist es gekommen, daß jeder Schriftsteller, mit noch so einem armseligen Erfahrungshintergrund, sogleich an die Öffentlichkeit tritt. Die Verwertung, das sehe ich hier wieder deutlich, steht an erster Stelle, ohne überhaupt noch zu sehen, was verwertet wird, Hauptsache: es kann verwertet werden. Und so wird in den Kanälen reingestopft, was nur reinzustopfen ist, jede Hohlheit, jede Winzigkeit, jede Plattheit - und es ist das der Grund für die Langeweile der deutschen Literatur hier in der Gegenwart, die einen befällt, wenn ich sie lese, daß gar keine Erfahrungen gemacht werden, sondern Verwertungen geschehen.  - (rom)

 

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