Fast, innere   Da nun sieht Carlo, wahrscheinlich vom Himmel herabsteigend oder vielleicht auch aus den Tiefen der Erde, neben den auf dem Rücken liegenden Körper zwei Wesen treten, von einer Art, die ganz gewiß nicht menschlich ist; dennoch erscheint sie natürlich, weil sie sich in die Logik der Vision einfügt. Sie stellen sich zur Linken und Rechten des Körpers auf, die Füße in Höhe seines Kopfs, und beginnen zu sprechen. Obwohl auch ihre Sprache nicht menschlich ist, versteht Carlo sie: nicht allein das, sondern die menschliche Sprache, in der sie von Carlo wahrgenommen wird, ist wunderschön. Denn jedes ihrer Worte ist von offenbarender Klarheit: das Verstehen ist nicht beschränkt sich nicht darauf, nur Verstehen zu sein, sondern ist auch freudiges Gewahrwerden des Verstehens. Bündig ausgedrückt, würde man sagen, daß diese beiden Gestalten in Versen sprechen oder in Musik. Natürlich ist das ein Effekt des visionären Traums, denn würden sie aus diesem Zusammenhang gelöst, (enthüllte ihr Gespräch ihre geheimnislose Natur, bar jeglichen Mysteriums, mit der Carlos Bildung sie auszustatten vermochte, und sie schrumpften zu einem bloßen Meinungsaustausch, zu einem ziemlich gewöhnlichen ideologischen Wortgefecht.

Der erste der beiden Disputanten war von engelgleichem Aussehen, und Carlo wußte tief im Innern, daß sein Name Polis war; der zweite dagegen sah elend aus, diabolisch, wie ein Schurke; und sein Name war Thetis.

Polis war es, der zu reden angefangen hatte: "Dieser Körper gehört mir, er steht mir zu. Es ist der Körper eines Guten, eines Folgsamen..."

"Schön, aber die Last, die in ihm ist, gehört mir...", gab Thetis zurück. Polis betrachtete ihn lächelnd mit seinen himmelblauen Augen, selbstsicher. Er setzte noch einmal geduldig zu sprechen an: "Wenn dies der Körper eines Mannes ist, der seine Mutter in angemessener Weise geliebt und seinen Vater zwar bekämpft hat, doch so wie es sein sollte, wohl wissend in seinem Innern die eigene Schuld von der des anderen zu unterscheiden - dann gehört dieser Körper mir."

"Einverstanden", gab der Teufel hartnäckig zurück, "aber die Last, die in ihm ist, gehört mir..."

Nicht umsonst war Polis engelgleich; daher verlor er seine gewaltlose, belehrende Haltung nicht und stimmte, in einer Tonlage, deren Zauber nur in Träumen wahrgenommen werden kann, seine neue Beweisführung an: "Wenn dies der Körper eines Mannes ist, der die Welt, in die er hineingeboren wurde, in der Absicht kritisierte, sie zu verbessern, und ihre Zerstörung nicht zur Entschuldigung dafür genommen hat, um in ihr verdienstvoller leben zu können - dann gehört dieser Körper mir."

"Absolut richtig", sagte Thetis, "aber die Last, die in ihm ist, gehört mir..."

Ein Schatten begann sich über Polis' Antlitz zu senken. "Versuche, dir klarzumachen", sagte er, "daß das Gute, dem der Mann dieses Körpers nachgefolgt ist, nichts Formales war, denn er hat es während seiner Existenz gelebt und damit zu etwas Realem gemacht. Deshalb gehört dieser Körper mir!"

"Ich glaube nicht, daß sie dir gehören kann, diese Hülle", antwortete Thetis, "wenn die Last, die in ihr ist, mir gehört."

"Dieser Körper ist der eines Mannes, der den Vater nicht aus verantwortungsloser Folgsamkeit reproduziert hat, vielmehr hat er ihn mittels der Tragödie reproduziert, durch die der Vater seinerseits diesen hier reproduziert hat, das heißt in seiner ewigen Bedingung als Sohn: daher gehört dieser Körper mir."

"Nein, denn die Last, die in ihm ist, gehört mir", beharrte Thetis, unnachgiebig, verrannt in einer starrköpfigen Überzeugung, die ganz so aussah, als könne sie vor nichts auf der Welt zurückweichen.

Polis steht eine Weile schweigend da und blickt zu Boden. Gewiß denkt er, daß er weitere tausend Sätze wie jene sprechen könnte, die er gesprochen hat; doch weil sie alle gleich sind, wie die Perlen eines Rosenkranzes, könnte keiner von ihnen andere Wirkungen erzielen als die bereits hervorgerufenen. Heilig ist er, dieser Polis, deshalb ist er nicht nur zum Gespräch bereit - mit einem von ihm so grundsätzlich verschiedenen Wesen -, sondern auch zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit: mit Worten wird keine Verständigung erreicht. Der einzige Beweis für wirklich guten Willen ist die gemeinsame Handlung: auch und erst recht, wenn sie skandalös ist. "Gut", sagt Polis schließlich, wobei er dem Unversöhnlichen ein Zugeständnis macht, "also, was willst du tun?"

Thetis, der natürlich noch viel pragmatischer ist, so wie jemand, der das Böse will und sich mit dem Bösen begnügt, das er augenblicklich zufügen kann ~ denn es bleibt immer noch viel Zeit, weiteres zuzufügen -, antwortet ohne Zögern: "Nimm du dir, was dir gehört, und ich nehme mir, was mir gehört." - "Das heißt?" erkundigte sich der Engel verständnisvoll. "Du", antwortet der Teufel, "nimmst dir deinen Körper. Ich nehme mir den anderen Körper, der in ihm ist."

Des Teufels Vorschlag ist annehmbar! Polis sieht ihn wie berückt an. Er schweigt und sieht ihn an. Und während er schweigt und ihn ansieht, steigt ein Lächeln aus seinem Innern auf, langsam, wie ein Himmel, aus dem der Wind die Wolken vertreibt und ihn ganz allmählich vollkommen heiter und strahlend werden läßt: [bis das Lächeln], hervorgerufen durch den Vorschlag des Teufels, vielleicht aber auch durch ein tiefergehendes Kalkül gerechtfertigt, sich in Worte verwandelte: "Einverstanden", sagte Polis, "nimm dir den anderen Körper."

Thetis läßt sich das nicht zweimal sagen: aus seinen verdreckten Beuteln zieht er ein Messer, treibt die Spitze in Carlos Bauch und macht einen langen Schnitt. Dann öffnet er ihn mit den Händen und zieht aus den Eingeweiden einen Fötus heraus. Mit einer Hand fährt er über die blutigen Ränder des Schnitts, mit ihr behandelt und vernarbt er die Wunde; mit der anderen hebt er den Fötus zum Himmel, wie eine Hebamme, die glücklich ist über ihr Werk.

Der Fötus wächst sofort und in Sekundenschnelle. Und wie er so wächst und wächst, erkennt Carlo ihn mit unendlichem Erstaunen: er ist es selbst.   - Pier Paolo Pasolini, Petrolio. Berlin 1994

 

Last

 

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