angsamkeit  Einmal gab es eine Welt, worin alles ganz langsam zuging. Eine angenehme, man möchte sagen, gesunde Trägheit beherrschte das Menschenleben. Die Menschen gingen gewissermaßen müßig. Was sie taten, das taten sie nachdenklich und langsam. Sie taten nicht so unmenschlich viel, fühlten sich auf keine Weise bewogen oder verpflichtet, sich aufzureiben und abzuarbeiten. Hast und Unruhe oder übermäßige Eilfertigkeit gab es unter diesen Menschen keine. Niemand strengte sich sonderlich an, und eben darum war das Leben so freundlich.

Wer hart arbeiten muß oder überhaupt in hohem Grad tätig ist, der ist für die Freude verdorben, der macht ein mürrisches Gesicht, und alles, was er denkt, ist unfroh und traurig.

Müßiggang sei aller Laster Anfang, sagt ein altes abgegriffenes Sprichwort.

Die Menschen, von denen hier die Rede ist, machten den Sinn dieses etwas vorlauten Sprichwortes in keiner Hinsicht wahr; im Gegenteil, sie widerlegten es und entkleideten es jeglicher Bedeutung.

Indem sie es sich auf harmloser, zutraulicher Erde wohl sein ließen, genossen sie still ihr Sein in traumhaft schöner Ruhe, und dem Laster blieben sie insoweit gänzlich fern, als ihnen gar kein Gedanke danach kam. Sie blieben gute Menschen, weil sie keine Zerstreuungssucht kannten; sie aßen und tranken wenig; denn sie hatten keinerlei Bedürfnis zu schlemmen.

Langeweile, d.h. das was man so darunter versteht, war ihnen völlig unbekannt. Mit allerlei vernünftigen Erwägungen beschäftigt, lebten sie ernst und zugleich heiter dahin. Werk- und Sonntage hatten sie nicht; jeder Tag war gleich. Das Leben floß wie ein ruhiger Fluß dahin, und niemandem fiel es ein, sich über Mangel an Reiz und Aufmunterung zu beklagen.

Diese Menschen lebten ein ebenso einfaches wie glückliches Leben. Ihr Dasein war süß, sanft und sonnig. Fern von Ruhmgier, Ehrsucht und Eitelkeit waren sie vor drei fürchterlichen Krankheiten behütet, und fern von Lieblosigkeit, wußten sie von einer Seuche nichts, die das Menschenleben verpestet.

Wie Blumen lebten und welkten sie. Keine Pläne unruhvoller, aufregender Art störten und belästigten die Köpfe, wodurch ihnen unermeßliches Leid ewig fremd und unbekannt blieb.

Auf den Tod waren sie still gefaßt; beweinten weder die Toten noch sich selbst der Gestorbenen wegen so sehr. Da einander alle liebten, war einzelnes nicht übertrieben geliebt und daher der Schmerz beim Abschied nicht so groß.

Wilde Liebe steht bei wildem Haß, wilde Lust bei ebensolcher Trauer. Wo Vernunft ist, da ist alles gebändigt, und alles ist sanft, geduldig und verständig.  - Robert Walser, Poetenleben. Frankfurt am Main 1978 (st 388, zuerst 1917)

Langsamkeit (2) Das stillschweigende oder offene Übereinkommen der Arbeiter, sich um die Arbeit zu drücken, d.h. absichtlich so langsam zu arbeiten, dass ja nicht eine wirklich ehrliche Tagesleistung zustande kommt, ist in industriellen Unternehmungen fast allgemein gang und gäbe. Zweifellos neigt der Durchschnittsmensch bei jeder Beschäftigung zu langsamem und gemütlichen Tempo bei der Arbeit, und nur unter dem Druck der Verhältnisse wird er sein Tempo beschleunigen.

Eine ganz unauffällig angestellte Untersuchung ergab, dass ein großer Teil der 10½ Stunden, während der man die Mädchen an der Arbeit glaubte, tatsächlich mit Nichtstun verging. Wie diese Untersuchung zeigte, verbrachten bisher die Mädchen einen großen Teil ihrer Zeit in halber Untätigkeit, indem sie gleichzeitig plauderten und arbeiteten.

Z.B. machte ich Zeitstudien an einem von Natur aus energischen Arbeiter, der seinen Weg zur Arbeit und zurück in einem Tempo von ungefähr drei bis vier Meilen pro Stunde zurücklegte und sogar häufig am Feierabend nach Hause trabte. Beim Betreten der Fabrik jedoch verlangsamte er sofort seinen Schritt bis zu ungefähr einer Meile pro Stunde. Hatte er einen beladenen Schubkarren vor sich her zu schieben, so ging er ziemlich rasch, selbst bergauf, um möglichst schnell die Arbeit zu beenden. Auf dem Rückweg mit dem leeren Schubkarren verfiel er dann sofort wieder in den langsamen Schritt von höchstens einer Meile pro Stunde und benutzte jede Gelegenheit für einen Aufenthalt, so dass man jeden Augenblick meinte, er würde sich niedersetzen. - Frederick Winslow Taylor, aus: Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung (1913)

Langsamkeit (3)   Schon unser gegenwärtiges schnelles Reisen ist kaum mehr als das Warten auf die Ankunft - was wird es sein, wenn selbst diese kurze Wartezeit entfällt? Die nächste Umgebung, einen kurzen Fußweg entfernt, wird uns fern erscheinen; die Ungeduld des Wartens werden wir auf unsere nächste Umwelt übertragen, unser Körper, dieses metabolische Fahrzeug, wird uns bleiern vorkommen, wie der Taucher werden wir das Gefühl einer überaus störenden Langsamkeit haben, unser Körper wird unerträglich geworden sein. Wie unter dem Wasserdruck am Meeresboden wird für unsere eigenen Kräfte unser direktes Umland so fern und unerreichbar scheinen wie die Kathedrale von Chartres dem Pilger. Wenn uns der Platz am Ende der Straße, der zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist, ebenso fern vorkommen wird wie Peking, was bleibt dann von der Welt? Was bleibt von uns? .- Paul Virilio, nach: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Hg. Karlheinz Barck u.a. Leipzig 1991
 

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