Lampião   Nicht trotz aller Angst und Abscheu, welche durch ihre Taten erregt werden, sondern gewissermaßen gerade weil sie solche Taten begehen, werden diese Banditen als Helden angesehen. Sie sind nicht so sehr Männer, die verübtes Unrecht gutmachen wollen, sondem sie sind Rächer und Machtvollstrecker. Sie finden nicht als Agenten der Gerechtigkeit Anklang, sondern als Männer, die beweisen, daß auch Schwache und Arme Schrecken zu verbreiten vermögen.

Ob wir solche Ungeheuer als eine spezielle Abart des Sozialbanditentums anzusehen haben, ist nicht leicht zu sagen. Ihre moralische Welt - das heißt jene, die in Liedern, Gedichten und Volksbüchern Ausdruck findet - enthält teils die Werte des »edlen Räubers«, teils die des Ungeheuers. So schrieb ein Dichter des brasilianischen Urwaldes über den großen Lampião:

Mörder aus purer Lust,
Tötete er zum Spaß.
Und stillte der Armen Not
Mit Sanftmut, Milde und Brot.

Es gibt cangaceiros im brasilianischen Nordosten, an die man sich hauptsächlich wegen ihrer guten Taten erinnert (beispielsweise der große Antonio Silvino, 1875-1944, der seine Glanzzeit als Banditenführer zwischen 1896 und 1914 hatte), während man anderer hauptsächlich wegen ihrer Grausamkeit gedenkt (beispielsweise Rio Preto). Allgemein gesprochen sind im »Image« des cangaceiro beide Elemente vereint. Das möchte ich am Beispiel des berühmtesten cangageiro, des Virgulino Ferreira da Suva (1898-1938), bekannt als Lampião oder als Der Hauptmann, zu illustrieren versuchen, wobei ich der Darstellung eines Poeten aus dem Urwald folgen werde.

Die Sage behauptet (wir sind ja im Augenblick mehr am »Image« des cangageiro interessiert als an der Wirklichkeit), er stamme von angesehenen Viehzüchtern und Farmern ab, die am Fuß der Berge im trockenen Hinterland von Pernambuco lebten, als in »jenen Tagen der Vergangenheit das Hinterland noch recht wohlhabend war«. Er soll ein intellektueller - und im Bild der Le-

gende daher auch nicht besonders kräftiger - Knabe gewesen sein. Die Schwachen müssen sich mit dem großen Banditen identifizieren können. Der Poet Zabele schrieb:

Wo Lampião lebt,
Sich der Wurm zum Helden erhebt;
Während der Affe den Tiger stellt,
Ficht das Lamm um seine Welt.

Sein Onkel, Manoel Lopes, meinte, der Junge sollte Arzt werden. Darüber konnten die Leute nur lächeln, denn:

Es gab in diesen Landen Sänger und Cangaceirobanden.
Und Treiber für das Vieh,
Doch einen Arzt sah man dort nie.

Wie dem auch sein mag, der Knabe selbst wollte ein vaqueiro werden, ein Rinderhirt, obwohl er doch das Schreiben und den »römischen Algorithmus« sehr schnell erlernte und schon nach drei Monaten Schule ein geschickter Poet war. Den Siebzehnjährigen beschuldigte man fälschlich des Diebstahls, und die Fcrreiras wurden von den Noguei-ras von ihrer Farm vertrieben. Das war der Beginn einer Fehde, die aus Virgulino Ferreira einen Geächteten machte. Zwar sagte man ihm: »Hab Vertrauen in den göttlichen Richter!«, doch er gab zur Antwort: »Im guten Buch steht geschrieben >Ehre Vater und Mutter<, und wenn ich nicht unseren Namen verteidige, so ist meine Ehre dahin.« Also:

Um sich Degen und Gewehr zu kaufen,
Suchte er die Stadt Sao Francisco auf

und bildete mit seinen Brüdern sowie noch siebenundzwan-zig anderen (die sowohl den Nachbarn als auch dem Poeten der Lampião-Chronik unter Spitznamen bekannt waren, von welchen die meisten für angehende Banditen traditionell typisch sind) eine Bande, um die Nogueiras in der Serra Vermelha zu stellen. Von der Blutfehde zum Banditentum war es ein logischer - und angesichts der Übermacht der Nogueiras ein notwendiger - Schritt. Lampião wurde ein umherstreifender Brigant, dessen Ruhm sogar den Ruf eines Antonio Silvino überstrahlte, seit nach dessen Ergreifung im Jahre 1914 im Banditenpantheon des Hinterlandes eine Nische frei geblieben war:

Soldaten trieb er vor sich her,
Rafft' Bürger ohn' Erbarmen hin;
Nach der Klinge stand sein Sinn,
Seine große Liebe war das Gewehr.
Er ließ Reiche als Bettler ziehn,
Tapfere flehten knieend um Schonung
Oder verließen Heim und Wohnung
Und mußten außer Landes fliehn.

Der Poet behauptet allerdings, Lampião habe all die Jahre, in denen er der Schrecken des Nordostens war, nämlich zwischen 1920 und 1938, niemals aufgehört, sein Los zu beklagen, das den ehrlichen Landarbeiter zum Räuber gemacht und zum sicheren Tode verurteilt hatte, von welchem nur zu hoffen war, er möchte ihn im gerechten Kampf ereilen, denn jeder andere wäre ein unerträgliches Ende. Lampião war und ist ein Held des Volkes, aber ein problematischer. Man mag es noch als vorsichtige Klugheit gelten lassen, wenn sein dichtender Chronist einen Bückling vor der konventionellen Moral macht und von der »Freude des Nordens« über den Tod des großen Lampião berichtet. Typischer ist allerdings die Reaktion eines der Hinterlandbewohner aus dem Distrikt von Mosquito: Als die Soldaten vorbeikamen, die die Köpfe ihrer Opfer in Kerosinbehältern mit sich führten, damit sich alle davon überzeugten, daß Lampião tatsächlich tot sei, meinte jener Mann: »Im Wasser hat das stärkste Gebet keine Macht; darum haben sie den Hauptmann getötet.«  Lampião hatte seine letzte Zuflucht in einem ausgetrockneten Flußbett gesucht, und wie anders war sein Verhängnis zu erklären, als mit dem Versagen seiner magischen Kraft? Trotzdem war Lampião ein Held - nur ein guter Held war er eben nicht.

Gewiß, Virgulino Ferreira war zum berühmten Messias von Juazeiro gepilgert, um diesen Padre Cicero um den Segen zu bitten, ehe er ein Bandit wurde, und der Heilige hatte ihm auch ein Dokument gegeben, welches ihn zum Hauptmann und seine beiden Brüder zu Leutnants ernannte, nachdem er sich erst vergeblich bemüht hatte, ihn umzustimmen. In der Ballade jedoch, auf die ich mich bei meinem Bericht in der Hauptsache beziehe, steht nirgends verzeichnet, daß Lampião irgendwelches Unrecht gutzumachen bemüht gewesen wäre (außer solches, das die Bande selbst traf), noch daß er von den Reichen genommen hätte, um die Armen zu beschenken, oder daß er irgendwem Gerechtigkeit gebracht hätte. Sie berichtet von Kämpfen, von Verwundungen und von Überfällen auf Städte (oder was im Hinterland als solche angesehen wird), von Menschenraub, von Überfällen auf Reiche, von Abenteuern mit Soldaten und Frauen, von Hunger und Durst aber von nichts, was einen an Robin Hood erinnert. Es werden vielmehr ganz im Gegenteil »Greueltaten« beschrieben: Wie Lampião einen Gefangenen umgebracht hat, obwohl die Frau dieses Mannes schon das Lösegeld bezahlt hatte, wie Arbeiter massakriert wurden, wie er eine alte Frau, die ihn verflucht hatte (sie wußte nicht, wer ihre Gäste waren), nackt mit einem Kaktus tanzen ließ, bis sie qualvoll umkam, wie er einen seiner Gefolgsleute, der ihn beleidigt hatte, sadistisch umbrachte, indem er ihn ein Kilo Salz zu essen zwang. Derlei Geschichten sind es, die in der Lampião-Chronik verzeichnet stehen. Terror und Erbarmungslosigkeit waren für diesen Briganten wichtigere Attribute als etwa der Ruf, ein Freund der Armen zu sein. Und seltsamerweise, obwohl sich das wahre Leben de; Lampião zweifellos durch Launenhaftigkeiten und bisweilen durch arge Grausamkeit ausgezeichnet hat, hielt er sich zumindest in einer Hinsicht für einen Hüter der Moral - der sexuellen nämlich:

Verführer wurden kastriert, den Banditen waren Vergewaltigungen untersagt (angesichts der Attraktivität ihres Rufes hatten sie es gar nicht nötig). Als »der Hauptmann« seinen Leuten befahl, eine Frau kahlzuscheren und sie nackt fortzutreiben, war die ganze Bande entsetzt, obwohl diese Frau einen Verrat begangen hatte. Zumindest ein Bandenmitglied mit echten Robin-Hood-Eigenschaften scheint es allerdings gegeben zu haben, und zwar Angelo Roque »Labareda«, der später Pförtner des Gerichtes von Bahia wurde. Im Mythos spielen solche Eigenschaften allerdings keine Rolle.   - (hob)

Lampião (2)
 

Cangaceiro Räuberhauptmann

 

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