L ama (menschlicher)  Kim legte sich nieder, mit dem Ohr gegen einen Riß in der von Hitze gespaltenen Zederntür, um, seinem angeborenen Instinkt getreu, zu horchen und zu spähen.

Das meiste von dem Gespräch ging über seine Begriffe. Der Lama, anfangs zögernd, sprach zu dem Kurator von seinem Lamakloster, Such-zen, gegenüber den farbigen Felsen, über hundert Tagereisen von hier. Der Kurator holte ein großes Buch mit Photographien herbei und zeigte ihm leibhaftig das Kloster: thronend auf seiner Klippe, mit dem Blick in das Riesental vielfarbiger Felsenschichten.

»O ja, ja!« Der Lama setzte eine Hornbrille chinesischer Arbeit auf. »Hier ist die kleine Tür, durch die wir das Holz für den Winter tragen. Und du, der Engländer, kennst das? Der jetzt Abt von Lung-Cho ist, sagte es mir, aber ich glaubte es nicht. Der Herr - der Erhabene - man ehrt ihn auch hier? Und man kennt sein Leben?«

»Es ist alles auf den Steinen gemeißelt. Komm und schau, wenn du ausgeruht bist.«

Der Lama schlürfte hinaus in die Haupthalle und schritt, dem Kurator zur Seite, durch die Sammlungen mit der Andacht des Gläubigen und mit dem Verständnis des Kenners.

Szene auf Szene der wundervollen Geschichte erkannte er auf den verwitterten Steinen wieder, hie und da ein wenig verwirrt durch den ungewohnten griechischen Stil, aber entzückt wie ein Kind bei jedem neuen Fund. Wo die Reihenfolge gestört war, wie bei der Verkündigung, ergänzte der Kurator sie aus dem Berg seiner Bücher - französischen und deutschen, mit Photographien und Abbildungen.

Hier war der fromme Asita, Pendant des Simeon der christlichen Geschichte, das heilige Kind auf den Knien haltend, während Vater und Mutter lauschten; und hier waren Vorgänge aus der Legende des Vetters Devadatta. Hier war das böse Weib, nun völlig zerknirscht, das mit schändlicher Lüge den Herrn der Unreinheit beschuldigt hatte; hier die Predigt im Wildpark; das Wunder, das die Feueranbeter bekehrte; hier war der Bodhisat als Prinz im königlichen Schmuck; die wunderbare Geburt; der Tod zu Kusinagara, wo der schwache Jünger in Ohnmacht fiel. Fast unzählige Wiederholungen der Meditation unter dem Bodhi-Baum waren da, und die Anbetung der Almosenschale war überall zu sehen. Nach wenigen Minuten schon merkte der Kurator, daß sein Gast kein gewöhnlicher, rosenkranzleiernder Bettler war, sondern ein ganzer Gelehrter. Und sie gingen alles noch einmal durch; der Lama schnupfend, seine Brillengläser putzend und mit EÜ-zugstempo ein wunderliches Gemisch von Urdu und Tibetanisch redend. Er hatte von den Reisen der chinesischen Pilger Fo-Hian undHwen-Thiang gehört und war begierig zu hören, ob Übersetzungen ihrer Berichte existierten. Mit angehaltenem Atem wendete er hilflos die Blätter von Beal und Stanislas Julien um. »Es ist alles hier - ein verschlossener Schatz für mich.« Dann suchte er sich zu beruhigen, um ehrfurchtsvoll den Bruchstücken zu lauschen, die ihm in aller Eile in Urdu wiedergegeben wurden. Zum erstenmal horte er von den Arbeiten europäischer Gelehrten, die mit Hilfe dieser und hundert anderer Dokumente die heiligen Plätze des Buddhismus festgestellt haben. Dann wurde ihm eine mächtige Karte gezeigt, voll gelber Striche und Punkte. Der braune Finger folgte dem Stift des Kurators von Punkt zu Punkt. Da war Kapilavastu, da das Königreich der Mitte, und hier Mahabodhi, das Mekka des Buddhismus; und hier war Kusinagara, der traurige Schauplatz von des Heiligen Tod. Der alte Mann beugte für eine Weile schweigend das Haupt über die Blätter; der Kurator zündete sich eine neue Pfeife an. Kim war eingeschlafen. Als er erwachte, war ihm die Unterhaltung, die immer noch fortging, besser verständlich.

»Und so geschah es, o Brunnen der Weisheit, daß ich beschloß, nach den heiligen Plätzen zu pilgern, die Sein Fuß betreten hat - nach dem Geburtsort, selbst nach Kapila; dann nach MahaBodhi, was dasselbe ist wie Buddh Gaya - nach dem Kloster - dem Wildpark - nach dem Ort Seines Todes.«

Der Lama senkte die Stimme. »Und ich komme allein hierher. Seit fünf, sieben, achtzehn - vierzig Jahren trag ich's im Sinn, daß das Alte Gesetz nicht wohl befolgt wird. Es ist, du weißt es, überladen mit Teufelei, Zauberei und Götzendienst. Just wie das Kind da draußen eben sagte; ja, wie selbst das Kind sagte, mit But-parasti*

»So geht es mit jeder Glaubenslehre.«

»Meinst du? Die Bücher meines Klosters habe ich gelesen, und sie waren vertrocknetes Mark; und das Ritual, mit dem wir vom Reformierten Gesetz uns später beladen haben -auch das hatte keinen Wert in diesen alten Augen. Selbst die Jünger des Erhabenen leben in endloser Fehde miteinander. Es ist alles Wahn! Ja, Maya, Wahn! Aber ich trage ein anderes Verlangen« - das gefurchte gelbe Gesicht näherte sich bis auf drei Zoll dem des Kurators und der lange Nagel des Zeigefingers tippte auf den Tisch. »Eure Gelehrten sind in diesen Büchern den heiligen Füßen auf allen Wanderungen gefolgt; aber es gibt Dinge, denen sie nicht nachgeforscht haben. Ich weiß nichts - nichts weiß ich - aber ich gehe, um mich frei zu machen von dem Rad der Dinge, auf einem offenen, breiten Weg.« Er lächelte mit naivem Triumph. »Als Pilger nach den heiligen Plätzen erwerbe ich Verdienst.«  

    *Götzendiener

- Rudyard Kipling, Kim. Nach (ki)

Mönch Buddhismus


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