Lage   Stencil lächelte. »Sie benehmen sich wie ein Chorknabe. Vielleicht sehe ich sie noch. Später, wenn Sie erledigt sind.«

Demivolt grinste traurig. »Das macht die LAGE halbwegs erträglich.« Und verschwand betrübt durch die Tür.

Stencil knirschte mit den Zähnen. Oh, die Lage, diese bluternste LAGE. In seinen philosophischen Momenten dachte er oft über die abstrakte Größe »Lage« nach, über ihr Wesen, über die Einzelheiten ihres Mechanismus. Er erinnerte sich an Tage, an denen das ganze Botschaftspersonal Amok gelaufen war und durch die Straßen schnatterte, dann nämlich, wenn man mit einer LAGE konfrontiert war, die sich jeder Klärung widersetzte, gleichgültig, wer und aus welchem Winkel auch immer sie betrachtete. Er hatte einst einen Schulkameraden namens Covess gehabt. Sie waren gemeinsam m den diplomatischen Dienst eingetreten, hatten sich Schulter an Schulter emporgearbeitet. Bis dann eines Tages im letzten Jahr die Faschodakrise kam und Covess an einem frühen Morgen gesehen wurde, in Gamaschen und mit einem Tropenhelm auf dem Kopf, wie er am Piccadilly Circus Freiwillige für eine Invasion Frankreichs anzuheuern versuchte. Irgendwie hatte er sich in den Kopf gesetzt, einen Cunard-Dampfer zu entführen. Als man ihn festnahm, hatte er schon ein paar Straßenhändier gekeilt, zwei Spaziergänger sowie einen Varietesänger. Für Stencil war es eine schmerzliche Erinnerung, daran zu denken, wie sie alle »Onward, Christian Soldiers« in verschiedenen Tonarten und Tempi gesungen hatten.

Er war schon längst zu der Überzeugung gelangt, daß keine LAGE auf einer objektiven Wirklichkeit beruhte: sie existierte nur in den Hirnen derer, die zufällig und zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihr zu tun hatten. Und da diese verschiedenen Ansichten dazu neigten, sich zu einer Gesamtsumme zusammenzufügen, die eher unbestimmt als homogen war, mußte die LAGE notwendigerweise einem einzelnen Beobachter, dessen Auge gewohnt ist, die Welt in drei Dimensionen zu erfassen, als vierdimensionales Diagramm erscheinen. Aus diesem Grunde hingen Erfolg oder Mißerfolg jeder diplomatischen Aktion von dem Grad der Koordination des mit ihr befaßten Personals ab. Diese Ansicht hatte ihn zu einem fast schon besessenen Eintreten für das Operieren in Arbeitsgruppen gebracht, und seine Kollegen nannten ihn den Taktstock-Sldney, weil er dann am besten arbeitete, wenn er einen ganzen Gesangverein dirigieren durfte,

Doch es war nur reine Theorie, und er liebte sie. Der einzige Trost bei dem gegenwärtigen Chaos war, daß er es mit Hilfe dieser Theorie erklären konnte. Seine Erziehung durch ein Paar unauffälliger, nonkonformistischer Tanten hatte es mit sich gebracht, daß er jener angelsächsischen Tendenz anhing, die Nordisch-protestantischen-Intellektuellen den Mediterran-römisch-katholischen-Irratlonalen gegenüberzustellen. So war er also mit einem tiefverwurzelten, unbewußten Vorurteil nach Florenz gekommen, einem Vorurteil vor allem gegen alles Italienische, und die Eigenschaften seiner Mitarbeiter von der Geheimpolizei bestärkten es noch. Welch eine LAGE konnte man schon bei einer so schmierigen und zusammengewürfelten Mannschaft erwarten?   - (v)

 

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