achwagen    »Vor einem Jahr schlich sich zwischen seine soliden und ernsten Genossen ein spaßiger Wagen ein und grassierte über zwei Wochen auf den Bahnstrecken zur Freude und Plage der Menschen. Seine Spaßhaftigkeit nämlich war verdächtiger Natur, und manchmal sah sie nach Boshaftigkeit aus. Wer immer in den Wagen einstieg, verfiel sofort in höchst vergnügte Stimmung, die alsbald in überschäumende Lustigkeit umschlug. Als wären sie unter Lachgas gesetzt worden, brachen die Leute ohne jeden Grund in Gelächter aus, sie hielten sich den Bauch und bogen sich unter Tränen zu Boden; schließlich nahm das Lachen den bedrohlichen Charakter eines Anfalls an: Die Reisenden wanden sich ohne Ende unter Tränen dämonischer Freude in Krampten, sie rannten wie besessen gegen die Wände und brüllten wie eine Viehherde mit Schaum vor dem Mund. Alle paar Stationen mußte man einige dieser unglücklichen Glücklichen aus dem Wagen tragen, da zu befürchten war, sie würden sonst vor Lachen platzen.«

»Wie haben die Eisenbahnbehörden darauf reagiert?« fragte unter Ausnützung einer Pause der untersetzte Ingenieur Zniestawski mit dem energischen Profil.

»Zunächst haben die Herren gemeint, irgendeine psychische Seuche, die von einem Fahrgast auf den anderen übertragen werde, sei hier mit im Spiele. Als aber ähnliche Geschehnisse täglich vorzukommen begannen, und zwar stets in demselben Wagen, verfiel einer der Eisenbahnärzte auf eine geniale Idee. Von der Annahme ausgehend, in dem Wagen stecke ein Lachbazillus, den er in aller Eile bacillus ridiculentus oder auch bacillus gelasticus primitivus nannte, unterwarf er den verseuchten Wagen einer unverzüglichen Desinfektion

»Ha, ha, ha!« lachte neben dem Ohr des unvergleichlichen Causeurs ein beruflich interessierter Nachbar laut auf, ein Arzt aus W. »Da bin ich aber neugierig, welches Desinfektionsmittel er angewandt hat: Lysol oder Karbol?«

»Sie haben sich geirrt, werter Herr, keines der genannten. Man übergoß den Unglückswagen vom Dach bis zu den Schienen mit einem von dem erwähnten Doktor ad hoc erfundenen Spezialmittel; es war die von dem Erfinder so genannte lacrima tristis oder Träne des Traurigen.«

»Hi, hi, hi!« hüstelte in der Ecke eine Dame. »Was sind Sie für ein goldiger Mensch! Hi. hi, hi! Das Tränchen des Traurigen!«

»Ja, gnädige Frau«, fuhr der Bucklige ungerührt fort, »denn kurz nachdem man den Genesenen erneut in Umlauf gebracht hatte, nahmen sich in ihm einige Reisende durch Revolverschuß das Leben. Solche Experimente rächen sich, gnädige Frau«, schloß er mit traurigem Kopfschütteln. »Radikalismus ist in derartigen Fällen ungesund.«  - Stefan Grabinski, Das Abstellgleis. Frankfurt am Main 1971 (Insel, Bibliothek des Hauses Usher, zuerst 1953)

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