3 Gesamtdurchgang: Überprüfung des Paradigmas



Die angekündigte Checkliste für den naturgemäß sehr lückenhaften Überblick über Metaphorik, Figurenarsenal und Handlungsmuster des Gesamtwerks wäre also beisammen:


Mit Blick auf die Variationen des Musters bei Arno Schmidt sollen im folgenden Art, Ziel und Resultat dieser Initiation untersucht werden, und auch ihre Mittel, da der traditionelle patriarchalische Initiationshelfer ("Mentor") entweder nur rudimentär vorhanden ist - und dann verächtlich gezeichnet wird oder ganz fehlt.

"Hohlwelten"


Unter den von Arno Schmidt entworfenen "Hohlwelten" ist der Kosmos des "Leviathan" die größtmögliche und auch bedrohlichste, da sie "in Kontraktion begriffen" ist. Dem kosmischen geschlossenen Raum entspricht das Raumgefühl der irdischen Handlung wie "niedriger grauer Tag" oder "perlmutternes Gewölk" und die Anspielung auf Piranesis

Piraneso, Carceri

 

"Carceri".

Die geschilderte "Fahrt ins Graue" endet mit dem Sprung des Protagonisten und der Anne Wolf von der Brücke in die "Wasserhölle". Weitere Elemente der Initiationsgeschichte: Anne Wolf - offensichtlich ein "H-W [=Hanne Wulff, H.D.] - Derivat" - der eigentlich der kosmologische Vortrag des Unteroffiziers gilt, ist unschwer als Artemis-Variante der Großen Mutter zu identifizieren. An einem Bahnhof, dem initiatorischen Ort der Trennung und des Neubeginns also, setzt die Handlung ein; auch die Namenlosigkeit des Protagonisten signalisiert den "Ausgang" des Initianden. Zudem mischt Schmidt, wie schon in "Das Steinerne Herz", die beiden Bildfelder: Wieder ist der Sog des Malstroms, diesmal als kontrahierendes Universum, die zentrale Metapher. - Der Radioessay über die literarischen "Meisterdiebe" listet die Unterweltsreisen der Weltliteratur von der Antike bis Franz Werfel auf. - Eine in fast allen Geschichten Arno Schmidts sich wiederholende Episode, der nächtliche Spaziergang, wird in "Abend mit Goldrand" so erklärt: "In der Nacht gehen wie in einem hohlen Berge"; die Kastenwelt des Kosmas, Lykophrons gnostischer Traum vom Kosmos als Felsenhöhle, der "Fliegende Robert", die zahllosen Blicke zum Himmels"gewölbe" sind weitere Belege. - Die Bahnreise des pseudonymen "Joachim" in "Pocahontas" ist zwar eine Wasserreise an diversen Flüssen entlang zum Dümmer, die Undine Selma Wientge ist aber auch ein "höllenfarbenes Mädchen", bei der "Joachim" sich im "soundsovielten Höllenkreis" fühlt usw. Auf den orphischen Charakter der "Schwarzen Spiegel" wurde schon zu Anfang hingewiesen; die Grenzüberschreitung vorbei an den "höllisch hellgelb und schwarz geringelten Pfählen" wird nicht weniger deutlich markiert als in "Das steinerne Herz"; der, wiederum namenlose, Erzähler läßt sich in der Nähe eines ehemaligen Bahnhofs nieder, wo er sein "HW-Derivat" trifft; die schlesische Herkunft vieler Frauengestalten läßt die Unterweltreise auch als Zeitreise in die Vergangenheit, des Autors wie des Erzählers, erscheinen. "Der Himmel, die schützende schöne Wölbung" erscheint auch in den Jugenderinnerungen des Erzählers, mit positiven Konnotationen, der Ambivalenz dieses wie der anderen Bilder Arno Schmidts entsprechend. - Weitere Belege zu Unterweltsreisen ließen sich noch mühelos beibringen, von "Brand's Haide" über "KAFF" bis "Zettel's Traum". Immer ist eine Unterwelt, als Ich, als Vergangenheit oder als das Unbewußte des Erzählers Ort der Handlung.

Wasserwelten


Unterwelt und Wasserwelt sind in Arno Schmidts Bilderkosmos Aquivalente, ihrer identischen Funktion als matriarchalischem Ort der Initiation entsprechend. Die zunächst harmlos erscheinende Urlaubsreise in "Pocahontas" etwa ist eine Wasserreise an Flüssen entlang bis zum Dümmer, scheinbar ohne jeden Sog. Selma Wientge läßt sich als "Stimme aus dem See" vernehmen und beherrscht als "Wasserjungfer", zugleich der Name eines Insekts) auch die "Undinentricks" usw. Ein frühes "Wasserstück" ist "Der junge Herr Siebold" von 1941 mit dem Zauberer van der Meer als Mentor, mit einer Unterwasserreise in einen Malstrom und, die spätere Stagnation am Ende der Initiationsreisen vrwegnehmend, der Abwendung von dem Zauberer und der Verzicht auf dessen Angebot ewiger Jugend. - Eine Wasserwelt ist auch der "Kosmas", beginnend mit dem Sirenen-Traum des Lykophron bis zum "totweißen Riemenfisch" und anderen Meerwundern, die Lykophron der Agraule zeigt; der "Zitterrochen, so groß wie sie" (Agraule nämlich), den er ihr zeigt, verweist auf ein zum Wasserkomplex gehöriges weiteres Motiv, das der Insel, und das "Pharos"-Fragment, wo, "ganz wie im Inferno", ein Zitterrochen eine tödliche Rolle spielt. "Pharos" ist neben einer Insel- aber hauptsächlich eine Vatergeschichte, worauf ich zurückkommen werde.

Hans Wollschläger hat die Insel als "Schlüsselbild" im Werk Arno Schmidts bezeichnet, aber nur dessen regressiven Aspekt gesehen, die Rückkehr in den Mutterleib. Was Arno Schmidt wirklich von "der" Insel erwartete, hat er in dem Radioessay über die "Insel Felsenburg" angedeutet: Ein "neues 'Ich'". Freilich ist die Insel der Ort des (Initiations-)Todes, aber eben auch der Wiedergeburt, mitten im Mythos eine Utopie also. - Welche Aspekte seine Inseln, also auch die "Gelehrtenrepublik" mit ihrer Galerie von Frauengestalten, noch haben können, ist in "Zettel's Traum" nachzulesen, wo Poes Inseln der Circe abgehandelt werden. - Zum Wasser-Komplex gehört neben der Insel auch der Sog, der Malstrom. Es steckt im kontrahierenden Kosmos des "Leviathan" und als "Spirale einwärts" perspektivisch im Finale des StH. Am Ende der "Gelehrtenrepublik" findet sich aber auch das Pendant: Winer flüchtet im Hubschrauber nach oben, weg von der rotierenden Insel der Circen, die Bewegungskurve ist also eine Spirale auswärts, analog zu Poes Malstrom-Erzählung. Äquivalent zur Insel ist das Haus, zufällig gefunden oder selbstgezimmert, als "Initiationshütte" Ort der Heiligen Hochzeit des Initianden mit der Großen Mutter: Der Waggon auf der zerschossenen Brücke im "Leviathan" gehört hierher, die Hütte im "Faun" oder "Kosmas", das Haus in den "Umsiedlern" oder in "Schwarze Spiegel". - Von der Flußreise des "Alexander" über die Erzählungen von "Kühe in Halbtrauer" bis zu ZT wären zahlreiche weitere Belegstellen zu finden. Der gesamte Wasser-Fisch-Frau-Zähne-Malstrom-Insel-Unterwelt-Komplex bezeichnet durchgehend den (subjektiven) Ort der Handlung bei Schmidt, zunächst als unmittelbar eigene Bilderwelt, seit ZT vornehmlich als Reflexion über eine fremde, angeblich nur die Poes, - immer aber im Zusammenhang mit einer matriarchalischen Initiation.

Mythisches Denken strukturiert auf seine Weise die Wahrnehmung in Bildern und Geschichten, schafft so Abstand und Ordnung und macht Bewußtsein möglich, nicht anders als das Muster und Figuren (wieder)-erkennende wissenschaftliche oder mathematische Denken. Entsprechend diesen beiden Polen von Arno Schmidts Vorstellungswelt, könnte also seine Figurenwelt annähernd in einer Tabelle (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) abgebildet werden:  

WERKE

 

FIGUREN

 

Große Mütter

Trickster

 
Artemis
(Mondaspekt)
Isis
(chtonischer Aspekt)
Göttlicher Tierischer Aspekt
ENTHYMESIS
 
- - Philostratos Aemilianus
GADIR

- - Phytheas -
ALEXANDER
 
Monika Monika Lampon (Agathyrsus)
BRAND'S HAIDE
 
Lore Grete "Schmidt" -
SCHWARZE SPIEGEL
 
Lisa Weber (Lisa Weber) anonymer Erzähler anonymer Erzähler
UMSIEDLER
 
Katharina Loeben (Katharina Loeben) anonymer Erzähler anonymer Erzähler
FAUN
 
Käthe Evers (Frau Düring?) Düring Düring
POCAHONTAS
 
Selma Wientge Annemie "Joachim" Erich Kendziak
KOSMAS
 
Agraule ? Lykophron ?
STEINERNES HERZ
 
Line Hübner Frieda Thumann Walter Eggers Karl Thumann
GELEHRTENREPUBLIK
 
Thalja "Jelena" u. a. Chr. M. Stadion C. H. Winer
KAFF
 
Herta Theunert, junge Tante Heete Tante Heete Karl Richter ?
CALIBAN
 
"Jägerinnen", junge Rieke Rieke Düsterhenn Knecht
ZETTEL'S TRAUM
 
Franziska, junge Wilma Jacobi usw. Wilma Jacobi u. a. Pagenstecher Paul Jacobi
SCHULE DER ATHEISTEN
 
Suse Kolderup, "Nipperchen"; Marjorie Kennan usw. Isis usw. Kolderup alt u. jung; Cosmo Schweighäuser Butt, "Apo" usw.
ABEND MIT GOLDRAND
 
Martina, Ann' Ev' Asta u. a. A&O, "Martin Schmidt" Olmers, Marwenne u. a.

Im Detail die Zuordnung der einzelnen Figuren zum Typus nachzuweisen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, punktuelle Hinweise müssen genügen. Einigen charakteristischen Zügen der Hauptfiguren soll aber nachgegangen werden, der Identität der beiden Frauengestalten etwa und der Betrugsskala des "Trickster".



Große Mütter

"Sein Bestand an Gedâm
iss bedauerlich vertypt"


Die Artemis der "Seelandschaft mit Pocahontas", Selma Wientge, ist weder so grotesk-harmlos ("Vogelscheuche", "UKW-Antenne" ) noch so lebenrettend wie der Beiname "Pocahontas" signalisiert, vielmehr eine ebenso bedrohliche Herrin der wilden Tiere wie die nicht nur physisch scheinbar so gegensätzliche Frieda Thumann: Selma hat "große Zähne", ist ein Insekt im "zaun-dürren Wespenkleid, Wie die Alten den Tod gebildet" , eine "Zikade" , eine insekten- und gleichzeitig undinenhafte "Wasserjungfer" und schließlich eine bezahnte Mantis Religiosa: "Kam in Gottesanbeterin=Stellung auf mich zu, legte mir die scharfen Vorderbeine über die Schultern, und versuchte lange, mich zu verzehren. Mit Händen, mit Zähnen". In "Caliban" taucht eine "Gottesanbeterin aus der Tiefsee" auf, mit der für Schmidt charakteristischen Vermischung der Bildfelder, ebenso in der "Gelehrtenrepublik". Der Jäger Orion (Reise durch den "Orionnebel") war Geliebter und Opfer der Artemis, die ihm einen Skorpion schickte.

Der Initiationstod droht dem Novizen von weiteren Artemis-Repräsentantinnen verschiedenen Alters: Von der grauhaarigen Lisa Weber der "Schwarzen Spiegel" wie von der "Jünglingsfresserin" mit den "weißen knirschenden Fangzähnen", der Agraule des "Kosmas". Anagrammatisch steckt in dem Vornamen der "Zigeunerschen" 'Lisa' Weber Wielands Hetäre 'Lais' aus dem "Aristipp". Ihr Bild changiert zwischen, in Wielands Terminologie, Matrone und Hetäre, den beiden Hauptaspekten der Großen Mutter also. Das Verhältnis des namenlosen Erzählers zu ihr ist eine Mischung aus Werbung und Machtkampf. Am Ende tritt doch das Bild der "Jägerin" "Diana" wieder zutage, unter anderem mit dem altbekannten Merkmal der "spitzen doppelten Zähne". Androgyne Züge, wie schon Line Hübner, hat sie von Anfang an. Sie ist "eine langsame finstere Göttin mit eisernen Waffen" , und, mit einem Keats-Zitat, "la belle Dame sans merci". Robert von Ranke-Graves sieht diesen Typus in der Tradition seiner "Weißen Göttin des Todes und der Inspiration"; vor ihr muß der Protagonist seine Prüfung ablegen. Wie auch in StH gegenüber Line Hübner versucht er es zunächst mit einem Bluff und präsentiert sich als misanthropischer Philosoph mit einer Vorlesung aus Wielands "Geschichte des weisen Danischmend", die offenbar nicht auf großes Interesse bei seiner Zuhörerin stößt; erst später präsentiert er, von ihr aufgefordert, seine eigentliche Geschichte. - Zwischen Mädchen, Göttin und Hexe changiert auch das Bild der Katharina Loeben in "Die Umsiedler", ebenso wie das der Lore Peters in "Brand's Haide"; die "Wölfin" Käthe Evers in "Aus dem Leben eines Fauns" erinnert nicht nur an den Namen der Hanne Wulff, sondern auch an Artemis, die Herrin der wilden Tiere.

Die Identität der beiden Frauen bei Arno Schmidt, als im Grunde Aspekte eines matriarchalischen Archetypus mag auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar sein; er selbst aber, nicht nur Mythographen und Ethnologen, gibt genügend Hinweise, spätestens seit "Kaff" mit der auf Hertha Theunert und Tante Heete gemünzten Bemerkung über Töchter als "`Schtandortwarrietät' der Weißn Athletin" (also der TH). Die Freundinnen-Paare der früheren Geschichten werden in den Typoskriptromanen zu Mutter-Tochter-Paaren, auch feindlichen, wie Wilma und Franziska Jacobi, beide aber mit den obligaten Zähnen; zudem haben die Mutter-Tochter-Paare noch einen Demeter-Persephone-Aspekt. Im so verdoppelten matriarchalischen Teil der Schmidtschen Initiationsgeschichten wird meist nur der Tochter-, Mond- oder Artemis-Aspekt ernstgenommen; für die chtonischen Mütter reichen, trotz ihrer ebenfalls bedrohlichen Seiten, meist die Tricks des Trickster aus, von Frieda Thumann bis zur Isis der "Schlue der Atheisten ". - Hans Peter Duerr hat die Verwandlungen dieses weiblichen Archetypus zurückverfolgt, von den mittelalterlichen Hexen über die olympische Artemis-Diana bis zu den archaischen Erdmüttern:


"Die Göttin des 'draußen' war die Artemis-Diana, einstmals die wilde Mutter der Vegetation. Wir haben gesehen, wie diese 'Löwin der Weiber' von den Indoeuropäern auf eine ganz andere Weise gezähmt wurde, wie man sie keusch und spröde machte, wie man sie 'jungferte'".


Diana erscheint so als patriarchalisierte Variante eines ursprünglich matriarchalischen Typus; ähnlich auch Kerényi und Eliade. - Die zahllosen Mondmetaphern in Arno Schmidts Texten gehören ebenfalls in diesem matriarchalischen Zusammenhang; das mythische Pendant, die Sonne, spielt ebenfalls eine entsprechende, allerdings weniger zahlreiche, Rolle spielt, als Vatermetapher nämlich, wie noch zu zeigen sein wird.

In der mythologischen Überlieferung waren Initianden der Großen Mutter, ihre Jünglings-Geliebten und Opfer, u.a. Attis, Adonis, Osiris und Tammuz. Einige dieser Namen werden bereits in "Leviathan" genannt; der englische Ethnologe Sir James Frazer hat den Themenkomplex 1906 unter dem Titel "Adonis, Attis, Osiris" in einem Buch dargestellt, das später in "The Golden Bough" eingearbeitet wurde; letzteres könnte Arno Schmidt schon vor Freuds "Totem und Tabu" kennengelernt haben.


Der Trickster

"3/5 of him genius
and 2/5 sheer fudge"


"Ein junger Mann kann den Weg in die Welt des Vaters nicht beschreiten, ohne die Rolle des 'Tricksters' zu übernehmen, und zwar die dunkle Seite dieser Gaunerrolle" (Robert Bly).


Schmidts donquichoteske Jünglingsfiguren, nicht nur in den ganz frühen Stücken, zeigen nicht bloß eine puritanische Seite, sie passen auch sehr wohl zum Trickster als dem Narren und (Selbst-)Betrüger. - Ein Kurzporträt des Trickster hat Arno Schmidt übrigens in dem "charakterlosen" "Gehirntier" Johannes von Müller geliefert: "...eine unheimliche Art zu sein : ein kindlich=greises, frevelhaft=schuldloses Wesen, das im Zeitenstrom dahingequirlt wird, widerstandslos, lachhaft abgelenkt von jedem läppischen Klein-=Zwischenfall".

Zu unterscheiden ist zunächst der Autor von seinen Protagonisten; ein Zug von Scharlatanerie gehört wohl zu jeder Autorschaft, das Rätselspiel mit Zitaten zum Beispiel, um die Leserschaft zu beschäftigen. - Bei Schmidts Figuren reicht die Trickster- oder Narrenskala von der Lüge bis zur Don-Quichotterie; die Kosmologie des "Leviathan" ist nur ein Beispiel. Sie stammt zu großen Teilen aus Poes "Heureka", was indirekt, durch die Erwähnung des Titels und des dreimalgroßen Poe bestätigt wird. Im Vortrag des Unteroffiziers steckt aber auch ein eindeutiger Betrugsversuch. Er doziert scheinbar naturwissenschaftlich fundiert seine Urknalltheorie und behauptet, daß der kosmische Raum "pulsiert" . Problematisch ist aber schon die Behauptung, die schlußendliche Kontraktion dieses Raumes sei "unvermeidlich". Diese angebliche 'Unvermeidlichkeit` hängt davon ab, wieviel Masse im Universum vorhandenen ist; sollte sie groß genug sein, überwiegt die Gravitation schließlich die Fliehkräfte und erst dann ist die Kontraktion 'unvermeidlich'. Diese Frage nach der Masse ist bislang empirisch unbeantwortet. - Die Erwähnung des "Dopplerschen Prinzips" und der "Linienverschiebungen im Spektrum" des Lichts weit entfernter Galaxien deutet die naturwissenschaftliche Informiertheit des Unteroffiziers an (die Erinnerungen des Jugendfreundes Johannes Schmidt legen nahe, daß er einschlägige Bücher von Sir Arthur Eddington kannte): Aus dem ins rote Spektrum verschobenen Licht dieser weit entfernten Sterne wird analog zum (akustischen) Dopplereffekt auf eine gegenwärtige Expansion des Universums geschlossen. Einige weitere Formulierungen sind aber mit diesen seit Ende der 20er Jahre bekannten Tatsachen unvereinbar: "In den Fliehbewegungen der extragalaktischen Nebel mag sich noch diese ehemalige Ausdehnung unseres 'Alls' andeuten" ; eine "ehemalige" Ausdehnung läßt aber eine gegenwärtige Kontraktion vermuten, und so hat der zuhörende Postbeamte auch verstanden: "Sie sagten vorhin, dies Universum sei in Kontraktion begriffen und wäre zuvor 'ausgeblasen' worden"; dem wird von dem Unteroffizier nicht wiedersprochen, vielmehr wird das endgültige Ende des leviathanischen Universums in Aussicht gestellt, was dem angekündigten "Pulsieren", also der Wiederholung von Kontraktion und Expansion, widerspricht, und übrigens auch Arno Schmidts Quelle; "Heureka" ist durchaus nicht nur die Weltuntergangsvision, als welche sie in ZT dargestellt wird. Diese Koinzidenz von Mythos und Naturwissenschaft bei Poe, der ja bildhaft die heute noch geltende Urknall-Theorie vorweggenommen hat (oder auch: die Naturwissenschaft ist befangen in mythischen Erklärungsmustern), ist von Arno Schmidt zwar vorgeführt, aber nirgends reflektiert worden, auch in ZT nicht. - Reine Wunschmagie wird der Blick auf die Dinge in "Enthymesis", wo der landmessende Erzähler wider besseres Wissen geradezu "will, daß sie [die Erde, H.D.] eine Scheibe und so unendlich sei". Magisch ist auch Schmidts Sprachauffassung: "Er hätte gern gewußt, wie die stolzen fremden Pflanzen hießen - nicht, wie sie genannt wurden - das war etwas ganz verschiedenes".

Das Gegenteil der von Schmidt beanspruchten Rationalität findet sich auch im "Faun", wo Düring per Magie einen Bombenangriff herbeizaubert und mit erotisch getöntem Genuß schildert; kurz zuvor hatte er erfahren, daß man dem "Faun" auf der Spur sei. Magie fast wie in den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, - was es hier am Ende aber nicht tut, wir sind im Mythos, nicht im Märchen - ist auch in "Schwarze Spiegel" im Spiel, wenn der Erzähler sich verjüngt: Der Mond wird zum "Meilenstein", dem eine "17" oder "18" "im Gesicht stehen" müßte, - was im Kontext als Altersangabe gelesen werden kann - "junge" Blätter streichen über das "glatte" Gesicht des eigentlich nicht mehr ganz jungen Protagonisten; im Liebesbrief eines "Kollegen Schattenreisenden" an "Johanna" wird die Abendluft als "schlanke grauhaarige Geliebte" empfunden; als Lisa Weber, oder eben auch "Hanne Wulff" samt ihren östlichen Essgewohnheiten, erscheint schließlich wirklich eine solche, "wie 1930 : wo sind die Jahre hin?!!" ; der Ort, an dem der Protagonist sich niederläßt, ist nicht weit von einem Bahnhof, was sowohl zu dem ehemaligen Fahrschüler Arno Schmidt als auch zum Initiationsschema paßt. Der Autor hat sich, wie auch im "Leviathan", in "Das steinerne Herz", in "Caliban", in ZT, und überhaupt, seine Jugendliebe noch einmal herbeigezaubert.

Verdrängung ist eine weitere Marke auf der Lügenskala des Trickster und betrifft gerade die Wissenschaft, die sie entdeckt hat, die Psychoanalyse nämlich. Auf den ersten Blick ist "Zettel's Traum" eine recht orthodoxe Psychoanalyse des Poeschen Werks; anstelle der Traumsymbolik wird lediglich eine Art sprachlicher Symbolik, die Etyms, als Material benutzt, was aber oft nicht zu trennen ist, betrachtet man die gelegentlich nicht endenwollenden Assoziationen über Blumen, Muscheln, Pilze, Schnecken, den (Namen) "Wolf" usw. - Ganz orthodox an Freud orientiert war gewiß vor allem die Poe-Deutung von dessen Schülerin Marie Bonaparte. Kritik am mechanischen Abspulen Freudscher Methoden mag das rationalisierende Motiv für Schmidts Ablehnung sein, neben dem Ärger des zu spät gekommenen Entdeckers über die Vorgängerin. Die Polemik ist aber stellenweise so heftig, daß noch anderes dahinter vermutet werden kann: Eine Verdrängung gewisser zentraler Themen der traditionellen Psychoanalyse, für die Bonaparte als Stellvertreterin steht, und vielleicht auch die Entdeckung, daß nicht nur Poe, sondern auch Schmidt durch diese Analyse betroffen war, "Poe Trismegistos (Heureka)" war schließlich einer "der ganz großen Götter meiner Jugend". Daß Freud ein Vorwort zum Buch seiner Schülerin beigesteuert hat, wird nicht erwähnt.

Bonaparte gruppiert Poes Geschichten zu einem Vater- und einem Mutterzyklus, und wenigstens Muttergeschichten waren bisher auch bei Arno Schmidt zu beobachten. Der Name John Allan, der Pflegevater Poes, der in seinem Leben eine entscheidende Rolle spielte, wird in ZT wohl nur einmal am Rande erwähnt, die Vaterthematik Poes/Bonapartes gar nicht, es sei denn, man nimmt die Überich-Thematik dafür. Statt dessen polemisiert Schmidt um so lauter gegen die Mutter-Interpretationen der Bonaparte: Gegen Paul Jacobis Einwand "dàs hat aberschon MB, 'Die Mutter als Landschaft'" schimpft DP:" Die soll sich ihre ewije 'Mutter' ma dahin schteckn..."; besonderen Ärger erregen Bonapartes Hinweise auf die zahnbewehrten Frauen bei Poe, die, wie gesehen, auch in Schmidts Geschichten so zahlreich sind: "MBs 'vagina dentata' reicht kaum an ein' 'seh-cunnt=ären einPhall' hinan" . Der initiatorische regressus ad uterum wird immer wieder beiseite geschoben als "Eingeweide=Fantasie", als bloß archaisches Fruchtbarkeitsritual, als "'MütterleinS=Romanzn'" usw. - alles, um Bonapartes Poe-(=Schmidt-)Deutungen nicht akzeptieren zu müssen. - Ähnlich wird auch die Bedeutung des Malstroms, als der zentralen Metapher von "Leviathan" über "Das steinerne Herz" und die "Berechnungen" bis zur "Gelehrtenrepublik" und ZT verdrängt: In "Zettel's Traum" wird die Betrachtung von Poes "Heureka", mit dem in den Kosmos projizierten Sog als Weltuntergangsvision, an das Ende des Buches plaziert ist, an seinen Höhepunkt also, aber auch banalisiert, indem er auf seinen angeblichen empirischen Ursprung reduziert wird: "Sein ganzes (ent)LeerGebäude ent-pupt sich als astrales Klo". - Ebenso wird die weiße Farbe der rätselhaften Gestalt des Pym-Finales mit Gewalt banalisiert und auf - sonst bestrittene - Kindheitseindrücke reduziert.  Mit den Mitteln der Aufklrätung des 18. Jahrhunderts wird hier die (Selbst-)Aufklärung des 20. verdrängt, wie witzig auch immer. - Als Verdrängung der Psychoanalyse erscheint auch der Umgang mit ihrem Begründer; Freud wird als väterliches Überich gesehen, der Hauptfeind Pagenstechers unter den Freudschen Persönlichkeitsinstanzen. Zentrale Thesen der Freudschen Theorie wie die von der frühkindlichen Prägung werden bezweifelt, überhaupt "normale" [!] Erklärungsversuche denen der Psychoanalyse erst einmal vorgezogen. Die Darstellung der Freudschen Instanzen ist ein erneutes Beispiel für die remythisierenden Tendenzen Arno Schmidts, wie schon die Kosmologie des "Leviathan". Freuds Begriffe werden personalisiert, z.T. als Theater-, z.T. als Eltern-Figuren; das UBW ist offenbar weiblichen Geschlechts und redet mit "1 foul=amüsiertn [...] laicht=verschlaimtn Alt, der nucklear mit=rein=muschelt"; das Überich hat eine "hellstählerne [...] Tenorstimme" usw. Das ÜI repräsentiert wohl den Vater, das UBW die Mutter (als "turmgroße" Initiationsinstanzen); dazwischen das Ich, das sich befreien oder als "4. Instanz" erst bilden möchte. Mit anderen Worten: Freuds Topologie des psychischen Apparats wird von Schmidt in ein Initiations-Szenario umgewandelt; zur Rolle der "4. Instanz" s. weiter unten.

Unmöglich, allen Details nachzugehen, aber zur "BetrügerKunst" Pagenstechers gehört auch die Suggestion, es gehe allein um die Übersetzung Edgar Allan Poes. Zahlreiche Poe-Analysen lassen sich ohne Schwierigkeiten auf Schmidts eigene Werke beziehen: Neben dem Malstrom und den Zähnen der Frauen etwa die Charakterisierung von "Poes" Frauengestalten, das "nächtlich=zwanghafte Herumstreunen", das in fast jeder Geschichte Schmidts sich findet, Poe als Plagiator und Plagiatoren-Entlarver; Pilz-Assoziationen können als Kommentare zu einigen Stellen in "Schwarze Spiegel" und "Brand's Haide" gelesen werden, wo Pilze gelegentlich von Schnecken aufgefressen werden. Poes Interessse für Metamorphosen (das Synonym für Initiation) entspricht dem von Arno Schmidt, nicht nur in der "Gelehrtenrepublik", usw. - Eine ganze Reihe weiterer Details wären auch zum Thema Trickster-Scharlatanerie noch beizubringen, u.a. große Teile des Karl-May-Themas bei Schmidt, von "KAFF" bis "Sitara". Mircea Eliade hat zwischen dem archaischen Ritual der Initiation und der Psychoanalyse die folgende Analogie hergestellt:

"Man könnte die Psychoanalyse als eine degradierte Form der Initiation betrachten, das heißt als eine Initiation, die einer entsakralisierten Welt zugänglich ist. Das Szenarium ist noch erkennbar: der 'Abstieg' in die mit 'Ungeheuern' bevölkerte Psyche entspricht einem "descensus ad inferos"; die reale Gefahr, die ein solcher 'Abstieg' birgt, könnte den typischen Prüfungen der traditionsgebundenen Gesellschaften gleichgesetzt werden usw. Das Ergebnis einer erfolgreichen Analyse ist die Integration der Persönlichkeit, ein psychischer Prozeß, der eine gewisse Ähnlichkeit mit der geistigen Verwandlung hat, die die authentischen Initiationen bewirken"


Initiation

"... wir buchstabieren, wo wir können,
ein Alphabet aus der Jugend wieder"

Herder, zitiert in "Zettel's Traum"


"Dieser hanswurstije JUNG, mit seiner 'Zweitn Adoleszenz': !(Genau=so rossich=täuscherich, wie GOETHE; der ja auch, bey=sich,eine 'Erneute Pubertät' zu con'statieren geruhte"..... Dies ist die einzige Stelle, an der Arno Schmidt seinem Erzählmuster auch begrifflich nahekommt, zugleich wird aber die Realisierbarkeit der darin enthaltenen Utopie, Zettels unaussprechlicher Traum vom wiedergeborenen 'neuen Ich' sozusagen, negiert und als bloße Altersphantasie dem "edel=unruhich Pubertierindin" kontrastiert, ganz in der Tradition seiner frühen 'reinen' Don-Quichote-Jünglingsgestalten wie etwa des Lampon oder Philostratos. Mit "Franziska=Nameh" in ZT wird aber Goethes wiederholte Pubertät eben doch herbeizitiert und in einer pessimistischen Variante nachgespielt, diesmal scheinbar, um die Unmöglichkeit dieser Wiedergeburts-Träume zu demonstrieren, von denen ihr Erfinder aber offenbar nicht lassen konnte, das Thema Metamorphosen ist eine der Schmidtschen 'Reihen' im Gesamtwerk, vom Raunen über die "paradiesisch"-magische Erneuerung der Natur im "Leviathan" über die nicht durchaus als höllisch empfundenen Verwandlungen in der "Gelehrtenrepublik" bis zu "Zettel's Traum".

Wie das wiedergeborene Ich und seine " Wietah=Nuh=owwa", die Eingangs-Phase des Initiationsrituals, aussehen soll, wird nicht explizit ausgemalt. Kaum je wird eine zweite Grenzüberschreitung zurück in die Alltagswelt signalisiert, nirgends erhalten Schmidts so oft namenlose Helden am Ende ihrer Prüfungen einen (neuen) Namen oder sonst ein Symbol ihrer neuen Existenz, sie bleiben vielmehr in einem "OOBIS=KROOG", einem "Lebermeer", einem "blauen Stein" oder sonst einem (Poeschen) Limbus zurück. In "Schwarze Spiegel", in "Die Umsiedler" und ZT ist es die Initiationshütte selbst: Das Resultat scheint fast immer das Zurückbleiben im rituellen "Schwellenraum" der Initiation zu sein, das 'neue Ich' ist bestenfalls das desillusionierte alte, "ä sädder and ä ueiser Männ". - Um diesen Ausgang der Initiationsabenteuer bewerten zu können, soll aber doch versucht werden, ihr ursprüngliches, kaum je ausgesprochenes Ziel zu rekonstruieren. Ein Initiationstraum in "Brand's Haide" führt zu einer schon aus StH bekannten selbst-'plagiatorischen' Bilderreihe, den "Fliegenden Köpfen". Im Fieberrausch träumt "Schmidt", auf ein Schloß zuzuschweben; er will es betreten, " (ein scharfer Halsschmerz trennte Kopf und Rumpf); dann ging ich leichtfüßig hinein...". Ähnliches findet sich nicht nur in "Das steinerne Herz", sondern etwa auch in "Enthymesis"; weder das Fieber noch die Flugphantasien fehlen, und "der Kopf ist wie isoliert vom Körper". Das zweite Rauschmittel neben dem Fieber, der Alkohol, zeigt deutlich, was mit den "Fliegenden Köpfen" gemeint ist: "eine Stunde lang wach wie ein Gott" zu sein. Das Ziel der Initiation war ein sozusagen absolutes, freies Bewußtsein, eine fast leviathanische Machtphantasie; in "Zettel's Traum" wird diese Metapher lediglich ins Begriffliche übersetzt und heißt dann "4. Instanz": das freudsche Ich, vereint mit einer "souverän = geistreich = lächernDän... 4. Instanz", übrigens eine der Parallelen zu Ernst Jünger , bei dem dieser solipsistische Traum zuerst "Waldgänger", dann "Anarch" heißt. Diese 4. Instanz, mit der Pagenstecher eigentlich nur Freuds "Ich" noch einmal erfindet, entsteht nach dem (angeblichen) Ende der männlichen Sexualität, der (angeblich) befreienden Trennung des Geistes vom Körpers.

Mit dieser Utopie des absoluten Ich konkurriert aber auch ihr Gegenteil, die Regression in einen absolut ichlosen Zustand, als Selbstauflösung und Verschwinden in der Natur: Vom Protagonisten der "Schwarzen Spiegel", der sich in die Nacht "mischt", über Dürings 'LG'- Metamorphose in einen Baum bis zum "Wind=Ich" Pagenstechers. - "Enthymesis" enthält beide Utopien, das Paradies des rein vegetativen Lebens in einer hohlen "Berghaube" wie auch die "Silberstadt" Beschars.

Die Art der Initiation wird durch die beiden elterlichen Prüfungs-Instanzen, das Unbewußte und das Überich, bestimmt. Die matriarchalische Variante wurde schon dargestellt; es gibt aber auch, vorwiegend im Frühwerk, eine patriarchalische, einen "Vater-Zyklus" von Erzählungen, analog zu Bonapartes Poe-Analyse, und dieser Teil der Initiation hat ein eindeutigeres Ende: Vatermord. Im "Leviathan" etwa wird dieser auf symbolisch-wissenschaftliche Art bewerkstelligt: Eine Assoziationsreihe stellt zunächst die Identität Leviathan = Sonne ("Beteigeuze, die Riesensonne" = Vater) her; am Ende wird dann, trotz des zunächst behaupteten "Pulsierens" des leviathanischen Universums, dessen Sterblichkeit behauptet: Es soll durch Magie "das ganze Gebilde zur Aufhebung" kommen können. Vaterstücke sind in noch stärkerem Maße "Pharos" und "Enthymesis", Erzählungen ohne Frauenfiguren. In der erstgenannten, einer Inselgeschichte mit Motiven aus Fouqués "Alethes von Lindenstein", bringt der Erzähler eine sehr ambivalent gezeichnete Vaterfigur - halb Gewaltmensch, halb Zauberer - zu Tode, indem er einen Rochen, einen "Seesatan", auf ihn losläßt. In "Enthymesis" werden die ambivalenten Aspekte des Vaterbildes auf zwei Figuren verteilt: Der Machtaspekt wird in der Figur des römischen "Machtschufts" Aemilianus isoliert, dessen Tötung mit homerischer Deutlichkeit geschildert wird; die guten, magischen Aspekte des väterlichen Mentors - fast der einzige in Schmidts Werk - repräsentiert der Zauberer Beschar, der am Ende in Gestalt eines geheimnisvollen Riesenvogels den Philostratos in die ersehnte Silberstadt hinwegträgt. - Positive Züge tragen noch die beiden Vaterfiguren im Hintergrund des "Kosmas", Lykophrons leiblicher Vater und Eutokios, sein Lehrer. Nur noch lächerliche Objekte des Trickster sind Machtfiguren wie der Landrat des "Faun" oder der Hannoveraner Dettmering in "Das steinerne Herz".

Der Schluß von "Enthymesis" wie der des "Leviathan" bietet aber auch eine zweite Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem Resultat von Arno Schmidts Prüfungsgeschichten: Die hinterlassenen Aufzeichnungen können als Symbol für dichterische Produktion aufgefaßt werden, und die eigentliche Initiation ist die in die Poesie, oder auch, in der ethnologischen Terminologie, die schamanistische.

Es fehlt bei Arno Schmidts Initiationsreisen, so war festzustellen, fast durchgehend der Mentor. Gerade dies ist aber ein Charakteristikum der Schamaneneinweihung als einer "Selbstinitiation". In Traum, Rausch oder Krankheit erfährt der Schamanen-Novize auf ekstatischen Unterwelts- oder Himmelsreisen seine Berufung. Unterweltsreisen waren schon einige zu finden bei Arno Schmidt, es gibt aber auch Ansätze zu Himmelsreisen: Aus der Wasserreise mit Selma Wientge wird eine nächtliche Himmelsreise ins Weltall, "mit m Wackelboot in den Orionnebel", hinein in "Binsenweltenwelteninseln" , und, pathetischer, in "Pharos": "in einem Raumschiff verloren im Weltall [...] mit uralten Augen durch fremdeste Einsamkeiten" reisend. - An die Stelle des meist fehlenden oder verachteten väterlichen Mentors tritt die Wirklichkeit selbst und vor allem eine besondere Form ihrer Wahrnehmung, die Epiphanie, - auch daher, meine ich, Schmidts Metaphernmassen. Dieses Hilfsmittel der Selbst-Initiation des Poeten ist aber ein in der Poetik der Moderne spätestens seit James Joyce bekanntes Phänomen; Walter Höllerer beschreibt sie so:

"Epiphanie, Erscheinung [...] bezieht sich zunächst auf ein äußeres Erscheinungsbild, auf die Registrierung der Oberfläche. Was durch die Sinne in einem bestimmten, konzentrierten Moment wahrgenommen wird, nimmt als Erscheinung Umrisse an. Im gleichen Vorgang aber wird Epiphanie als wahrgenommener Moment auch schon Erscheinung = Vision, vorgestellter Moment, der die einzelne Wahrnehmung von einem anvisierten Ganzen her aufleuchten, 'strahlen' läßt. Erinnerung und Erwartung verknüpfen die äußere Erscheinung mit den ältesten Menschheitserfahrungen und -träumen und den jüngsten vortastenden Entdeckungsversuchen. Augenblick und Einzelding werden so, wie bisher kaum je, betont".


Der Roman wird zu einer "Schar von gegensätzlichen Augenblicken, die als Nacheinander, Nebeneinander und Miteinander von Epiphanien komponiert sind". Höllerers Bemerkungen scheinen nicht nur die 'Raster'-Struktur von Schmidts Erzählweise zu beschreiben, sondern auch die Struktur seiner Metaphern als Kombination von Alltag und Mythos; sie bringen zudem Schmidts eigene Ausführungen über diskontinuierliche Wahrnehmung vom "Faun" bis zu den "Berechnungen" auf den Begriff. Zudem stellt Höllerer auch einen Zusammenhang her zwischen Joyces Wortartistik und seiner Epiphanienlehre, - noch eine von Joyce auf Schmidt übertragbare Beobachtung.

Patriarchalische und matriarchalische Initiation laufen also auf eine 'schamanistisch'-Poetische hinaus: "Die sackgassenartije Structur seiner Geschichtn" [Poes, und Schmidts] , die "unvollendete Wandlung" (Franz Fühmann) seiner Protagonisten, ihre Nicht-Rückkehr aus dem rituellen Raum oder "heiligen Bezirk" bedeutet, aller sonstigen Desillusionierung zum Trotz, doch eine Wiedergeburt: Die des Trickster als Poet, der im ambivalenten "Zwischenreich" der Poesie, zwischen Tod und Leben, nahe bei der "Weißen Göttin des Todes und der Inspiration" zurückbleibt.

Die Ergebnisse des "Gesamtdurchgangs", die im einzelnen natürlich noch zu überprüfen wären, sind also etwa die folgenden: Das Ritual - oder auch: der "(Mono-)Mythos", wie Joseph Campbell nach einem Wort von James Joyce sagen würde - das in Schmidts Erzählungen steckt, heißt Initiation, Wiedergeburt eines 'Neues Ich'; dessen Prüfungsabenteuer finden allerdings nicht mehr wie im Mythos in der Außenwelt statt, sondern im Bewußtsein des Helden, ablesbar an seiner Bildwahrnehmung. Voraussetzung dieser Wiedergeburt ist die Trennung von den bisher herrschenden 'Vätern' und 'Müttern', weshalb die Initiationsgeschichten einen patriarchalischen und einen (doppelten) matriarchalischen Aspekt aufweisen; der erstere steht bei Schmidt in den frühen Geschichten, bis etwa zum "Leviathan" im Vordergrund, in den späteren erscheint er sublimiert zur - gelegentlich nicht weniger gewaltsamen - Auseinandersetzung mit den literarischen Über-Vätern Joyce und Freud. Die "4. Instanz" als erträumtes Ziel ist offensichtlich eine Machtphantasie. Diese Vater-, und das heißt auch Macht-Fixierung, mag auch als wilhelminisch - expressionistisches Erbteil des 1913 geborenen Arno Schmidt gesehen werden. Jörg Drews etwa hat Schmidts Rivalität mit seinen literarischen Vätern Freud und Joyce nachgezeichnet. Eine Bemerkung des Schwarze-Spiegel-Protagonisten spricht die Identifikation mit der väterlichen Machtfigur aus: "... am Ende werde ich allein mit dem Leviathan sein (oder gar er selbst)". - Erählerisch im Vordergrund steht jedoch die matriarchalische Seite der Initiation; der utopische Inhalt dieses neuen Ich, der "4. Instanz" sozusagen, hat neben dem leviathanischen Machtaspekt noch einen zweiten, sozusagen schamanistischen: Poesie, die als sprachmagische Beherrschung der Wirklichkeit selbst einen Machtaspekt hat; wir sind wieder beim Ausgangspunkt, bei "Orpheus". - Zur Wiedergeburt des Poeten paßt auch die Art der Initiation als Selbstinitiation mittels Epiphanie.

(Selbst-)Betrug und Lüge als Leitmotiv des Gesamtwerks ließen Schmidts Initianden schließlich als Trickster erscheinen, eine sehr ambivalente, halb göttliche, halb tierische Figur zwischen Gauner und Kulturheros. Vom Selbstbetrug des Pytheas in "Gadir" und den don-quichotesken Zügen nicht nur seiner frühen Jünglingsfiguren, über das Doppelleben des "Fauns" Düring und die Affinität Karl Richters zu dem literarischen Betrüger Karl May bis zu Pagenstecher und Kolderup ist diese Mischung aus Lüge und Selbsttäuschung bei Schmidts Protagonisten zu finden. - Einigen der hier nur angedeuteten Thesen weiter nachzugehen, würde wohl lohnen: Im Zusammenhang mit dem Betrugsthema und Schmidts Metaphorik wäre die blitzartige Epiphanie als Zentrum von Schmidts Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Literaturtheorie zu sehen, wie sie in den "Berechnungen" als mehr oder weniger begriffslose Darstellung seiner literarischen Praxis niedergelegt ist; anbieten würde sich dazu ein Vergleich mit ähnlichen Tendenzen bei Ernst Jünger. Das Myzel von Initiationsgeschichten - Erzählern, nicht nur derjenigen, auf die Schmidt explizit Bezug genommen hat, wie auf Jules Verne, Hesse, Joyce oder Thorne Smith , wäre ebenfalls ein ergiebiger Untersuchungsgegenstand, etwa im Zusammenhang mit einer kritischen Würdigung seiner von ihm selbst konstruierten Traditionszusammenhänge. Zu diesem Myzel gehören nicht nur Ernst Jünger, Alfred Kubin ("Die andere Seite") oder Franz Fühmann; Thomas Mann, Hermann Hesse gehört ebenso dazu wie Rilkes "Malte", John Cowper Powys' "Wolf Solent" oder die Nick-Adams-Geschichten Hemingways, Joseph Conrads "Schattenlinie" und "Lord Jim", und natürlich Mark Twain, aus dessen "Huckleberry Finn" nach Hemingway die amerikanische Literatur stammt.

Peter Handke erzählt spätestens seit "Der kurze Brief zum langen Abschied", bis zur "Niemandsbucht", in denselben Strukturen und seine drei neueren "Versuche" kreisen fast ausschließlich um das Thema der Epiphanie, der "Stunde der wahren Empfindung". Allerdings müßte dabei, wie es auch hier versucht wurde, von Punkten außerhalb des Schmidtschen "Systems" und seiner Selbstdeutungen aus operiert werden, um solche literaturwissenschaftlichen Grotesken wie die von Hinrichs zu vermeiden, der sich so ausführlich bemüht hat, nachzuweisen, daß Schmidt seine Sachen genau nach dem vorgängigen Rezept seiner Literaturtheorie verfertigt hat. - Fast immer im Gegensatz zu Arno Schmidt, jedenfalls dem späteren, ist die Stadt Ort der Initiationsversuche, nicht nur bei Rilke, auch in Rolf Dieter Brinkmanns "Rom, Blicke" usw. Bei fast allen der Genannten steht die Erneuerung der poetischen Produktivität im Vordergrund, die Suche nach einem neuen Sehen, es scheint sich also um ein typisches Schriftstellerthema zu handeln. Dagegen spricht aber z.B. der Dauererfolg des "Steppenwolf", nicht nur in den USA, sondern auch eine spezifische Resonanz der anderen genannten Autoren. Einige von ihnen (Jünger, Handke, auch Hesse) haben - wie Arno Schmidt - eine bemerkenswerte gemeindebildende Wirkung mit Anhängern und vehementen Gegnern. Das soll hier gewiß nicht allein aus dieser ihnen gemeinsamen Thematik erklärt werden, mag aber doch auch mit einem von Eliade und auch Bly diagnostizierten verbreiteten Bedürfnis nach einer Erneuerung des individuellen Lebens zusammenhängen, in diesen initiationslosen, aber offenbar auch -bedürftigen Zeiten, - siehe den gegenwärtigen Esoterik-Boom. Sektierer und andere trübe Gäste werden in dieser Leserschaft aber wohl eine Minderheit sein.


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Dieser Aufsatz wurde zuerst im Bargfelder Boten, Lfg. 182-184 (Dez. 1993) veröffentlicht, mit genaueren Belegangaben. Hier genügt eine Literaturliste


© Hartmut Dietz  1993