FORMALE ANWEISUNGEN

Es scheint deplaziert zu sein, in Polar [Frz. Zeitschrift der 70er/80er Jahre zu Themen des - nicht nur - französischen Kriminalromans] auf Arno Schmidt (1914-1979) zu verweisen, denn dieser Autor ist trotz seiner Vorliebe für Abenteuerromane (James Fenimore Cooper, Karl May) im wesentlichen ein Avantgardeliterat. Und der Roman mir hat sich, abgesehen von Ausnahmen, ganz im Gegenteil dafür entschieden, sich von den stilistischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts zurückzuziehen, sich außerhalb der literarischen Ehrbarkeit zu bewegen und insgesamt einen Kontrast zu all den Unternehmungen zu einer formalen Innovation zu bilden, die nach Joyce und seiner kurzlebigen Nachkommenschaft in hohler Wiederholung steckengeblieben sind.

Aber Schmidt ist gerade nicht steckengeblieben. In theoretischen Texten im Anhang zu zwei romanartigen Erzählungen, die in Roses & poireau3 (Maurice Nadeau, 1994) zusammengefaßt sind, erfährt man, daß er den Stil an der Wurzel gepackt hat, das heißt indem er sich bemühte, die Formen, «die im späten 18. Jahrhundert entwickelt wurden», zu überwinden. Daß er erstaunliche Korrespondenztabellen erstellt hat, zum Beispiel zwischen der «Bewegungskurve von Personen», ihrem «Tempo», den Themen und den «Konsequenzen für den Rhythmus, die Sprache und den Inhalt». In diesen theoretischen Texten und vor allem, wenn man die romanartigen Erzählungen von Amo Schmidt liest, stellt man eine Unterordnung der Syntax unter den intermittierenden Fluß von Wahrnehmungen fest, sowie den Gebrauch einer sehr heterodoxen Typographie und vor allem Zeichensetzung. Bei einem solchen Programm wird der Leser vielleicht erstaunt sein, zu erfahren, daß dieser Schriftsteller, wenn die ersten vier oder fünf Minuten der Überraschung vorbei sind, sich genauso leicht liest wie zum Beispiel Westlake (diejenigen, die Schmidt mit Joyce vergleichen, vergessen die großartige Klarheit Schmidts).

Da eine Erklärung des Textes noch nie deutlich gemacht hat, wo das Genie liegt, verweise ich euch auf die Werke von Amo Schmidt, die ins Französische übersetzt wurden. Bei Christian Bourgois bilden die Scenes de la vie d'un faune, Brand's Haide und Miroirs noirs4 die Trilogie «Les enfant de Nobodaddy»5. Der Krieg lastet schwer auf den drei Bänden: die Liebhaber der literarischen Gewalt werden im ersten Band eine der großartigsten Bombardierungsszenen finden, die ich kenne; was Miroirs noirs betrifft, so spielt es nach dem Atomkrieg. Ebenfalls bei Bourgois findet man Leviathan6, drei Erzählungen, von denen zwei in der Antike angesiedelt und mit witziger Gelehrsamkeit vollgestopft sind, mit der der Autor seine Werke gern gespickt hat. Bei Maurice Nadeau findet sich neben Roses & poireau auch noch Soir bordé d'or 7, ein Werk, das in jeder Hinsicht monströs ist, da es 44 mal 32 cm groß ist, und dessen Seiten die Fotokopie von riesigen getippten Blättern zu sein scheinen, mit Tippfehlem, handschriftlichen Korrekturen, Einrahmungen, Randbemerkungen, Illustrationen etc. Aber Achtung, das Baby kostet 550 Franc und ein paar Zerquetschte.

Aber auch wenn man zugeben muß, daß Amo Schmidt ein zeitgenössischer Erneuerer ist, der ausnahmsweise nicht in der Wiederholung irgendwelcher Rezepte aus dem Jahre 1920 steckengeblieben ist, so beantwortet das doch nicht die Frage: Was hat er in Polar zu suchen?

Er erschüttert unsere Überzeugungen und bestätigt sie dann. Unsere latenten oder entwickelten Überzeugungen lauten jedenfalls, daß der Roman noir allem überlegen ist, vor allem unter einem formalen Gesichtspunkt, und daß wir den letzten Bunker halten, in dem noch Romane fabriziert werden, die es ein wenig verdienen, gelesen zu werden (es gibt manchmal auch gute Science-fiction-Romane, aber im S.-f.-Bereich gibt es keine formale Kohärenz). Wir glauben keinen Augenblick, daß jemand die Offensive ergreifen und einen literarischen Durchbruch machen kann (ab und zu gibt es einen guten «weißen» Roman, aber immer ist er wie im 19. Jahrhundert geschrieben). Und Amo Schmidt ist der lebende Beweis (wenngleich er schon seit fünfzehn Jahren tot ist), daß das doch möglich ist! Man kann die Offensive ergreifen und einen einsamen Durchbruch machen. Und gleichzeitig braucht man nur hindas Genie liegt, verweise ich euch auf die Werke von Amo Schmidt, die ins Französische übersetzt wurden. Bei Christian Bourgois bilden die Scenes de la vie d'unfaune, Brand's Haide und Miroirs noirs4 die Trilogie «Les enfant de Nobodaddy»5. Der Krieg lastet schwer auf den drei Bänden: die Liebhaber der literarischen Gewalt werden im ersten Band eine der großartigsten Bombardierungsszenen finden, die ich kenne; was Miroirs noirs betrifft, so spielt es nach dem Atomkrieg. Ebenfalls bei Bourgois findet man Leviathan6, drei Erzählungen, von denen zwei in der Antike angesiedelt und mit witziger Gelehrsamkeit vollgestopft sind, mit der der Autor seine Werke gern gespickt hat. Bei Maurice Nadeau findet sich neben Roses & poireau auch noch Soir borde d'or', ein Werk, das in jeder Hinsicht monströs ist, da es 44 mal 32 cm groß ist, und dessen Seiten die Fotokopie von riesigen getippten Blättern zu sein scheinen, mit Tippfehlem, handschriftlichen Korrekturen, Einrahmungen, Randbemerkungen, Illustrationen etc. Aber Achtung, das Baby kostet 550 Franc und ein paar Zerquetschte.

Aber auch wenn man zugeben muß, daß Arno Schmidt ein zeitgenössischer Erneuerer ist, der ausnahmsweise nicht in der Wiederholung irgendwelcher Rezepte aus dem Jahre 1920 steckengeblieben ist, so beantwortet das doch nicht die Frage: Was hat er in Polar zu suchen?

Er erschüttert unsere Überzeugungen und bestätigt sie dann. Unsere latenten oder entwickelten Überzeugungen lauten jedenfalls, daß der Roman noir allem überlegen ist, vor allem unter einem formalen Gesichtspunkt, und daß wir den letzten Bunker halten, in dem noch Romane fabriziert werden, die es ein wenig verdienen, gelesen zu werden (es gibt manchmal auch gute Science-fiction-Romane, aber im S.-f.-Bereich gibt es keine formale Kohärenz). Wir glauben keinen Augenblick, daß jemand die Offensive ergreifen und einen literarischen Durchbruch machen kann (ab und zu gibt es einen guten «weißen» Roman, aber immer ist er wie im 19. Jahrhundert geschrieben). Und Amo Schmidt ist der lebende Beweis (wenngleich er schon seit fünfzehn Jahren tot ist), daß das doch möglich ist! Man kann die Offensive ergreifen und einen einsamen Durchbruch machen. Und gleichzeitig braucht man nur hinzusehen und lesen zu können, um zu erkennen, daß dieser Autor absolut isoliert ist. Selbst unser Entzücken läßt uns das spüren. So daß der große Arno uns letzten Endes in der Idee bestätigt, daß wir zur Aufrechterhaltung einer literarischen Gemeinschaft (was ihm zweifellos piepegal war) weiterhin unseren Bunker verteidigen müssen.

Um Amo Schmidt kennenzulernen, würde ich euch respektvoll raten, vorzugsweise mit Scenes de la vie d'un faune zu beginnen, das vom Überleben eines kleinen Beamten, der gegen den Nazismus rebelliert, und seiner Liebe zu einer Primanerin «erzählt».

Wenn man weiterhin das semantische Feld durchmißt, bei dem Fragen der Form immer auch Grundfragen sind, muß man bei Les Coups von Jean Meckert (Jean-Jacques Pauvert bei Terrain Vague, 1993) halt machen, wenngleich Jean-Pierre Deloux in Polar Nr. 12 schon ein Loblied darauf gesungen hat. Ich komme nicht auf das zurück, was Deloux gesagt hat. Ich möchte auf dem stilistisch paradoxen Charakter des ersten Romans von Meckert beharren (der, man erinnere sich, aus dem Jahr 1942 stammt). Der Erzähler, ein unqualifizierter und ungebildeter Arbeiter, berichtet nämlich von den Banalitäten seines Alltagslebens und vor allem von der Entstehung und vom Niedergang seiner Liebe zu einer Sekretärin. Da diese Liaison ihn dazu bringt, in einem «kleinbürgerlichen» Milieu zu verkehren, das mit kümmerlicher Kultur aufpoliert ist, befindet sich der Erzähler in großen Ausdrucksschwierigkeiten, um nur mitzuteilen, daß die überlegenen Ausdrucksfähigkeiten dieser Leute in Wirklichkeit von der Kümmerlichkeit ihrer Kultur verfälscht und verdorben werden. Obwohl er nur ein Tagelöhner ist, der von diesen Leuten für einen Rüpel gehalten wird, muß er mit seinen begrenzten Mitteln sagen, daß sie die Rüpel sind. Sicherlich kann man in Les Coups, wie Annie Le Brun in ihrem Nachwort, auch einen Roman über die Unmöglichkeiten der Liebe sehen. Ich sehe darin vor allem einen Roman über die Unmöglichkeiten des Ausdrucks und über die kulturelle Herrschaft, die diese Unmöglichkeiten bestimmt. All das geschieht in einfachen Sätzen, die scheinbar konfus sind, und mit einigen klassischen Unsauberkeiten («Wo ich doch sage», «Wo sie doch sagt») - das ist schon beeindruckend.

Im virtuosen Genre stützt sich William Kotzwinkle, der uns immer vertrauter wird, in Le Livre d'une nuit8 (Joelle Losfeld, 1994) auf ein ziemlich überraschendes Sprungbrett. Einerseits vereint er Damen aus der Antike, die sanfte und schlüpfrige Geschichten erzählen. Andererseits läßt er Anekdoten aus den heutigen Vereinigten Staaten aufmarschieren, die einen allgemein pornographischen Charakter haben. Der formale Geistesblitz besteht darin, vom ersten Komplex zum zweiten und umgekehrt überzugehen, und das inmitten der Geschichtchen und ohne jeden Übergang. Kotzwinkle fängt kaum einen neuen Absatz an. In dem Maße, wie die antiken Erzählungen sanft und relativ elegant sind und die zeitgenössischen Geschichten vor Obszönitäten nur so strotzen, ist das Ergebnis sehr schockierend und um so komischer. Wenn man zu Tiefsinnigkeit neigt, wird man sich fragen, ob der Schriftsteller die heutige Brutalität verdammen wollte, indem er sie so harsch mit dem antiken Charme konfrontierte. Aber ich glaube, daß er einfach einen völlig neuen Schockeffekt gerunden hat, um uns zu unterhalten.

Halten wir nebenbei fest, daß das Funktionieren von Book of Love9 vom selben Kotzwinkle (Rivages, 1992) auch auf dem Gegensatz zwischen zwei Welten beruht, die zwei unterschiedliche Formen bestimmen: der traurige und burleske Verlauf der Kindheit und der Jugend des Helden, der von der Entwicklung seines imaginären Universums begleitet wird, das übrigens genauso miserabel ist. Es ist gut möglich, daß es diese Machart ist, die dafür sorgt, daß das Book of Love und Le Livre d'une nuit dem Midnight Examiner10 überlegen ist, das zwar so burlesk, wie man nur wünschen kann, aber univok ist.

Aus formaler Sicht wird man vielleicht finden, daß es in L'Assassin11 von Liam O'Flaherty (Joelle Losfeld, 1994) - gut übersetzt und von unserem Kollegen Hervé Jaouen mit einem Vorwort versehen - nichts wirklich Außergewöhnliches gibt. Der Autor von Mouchard12 erzählt vom Überfall eines Killers in Irland, wo er - nachdem er sich der Komplizenschaft einiger Personen versichert hat, die genauso pittoresk und verzweifelt sind wie er selbst - einen Politiker umlegen will, der die Sache verraten hat. Land und Leute werden in einer nervösen, wütenden Weise beschrieben. Die terroristische Hysterie erinnert - wenn auch sehr entfernt und flüchtig - an Dostojewski. Das wurde mit Kraft und Tempo in der normalen Prosa von 1928 geschrieben, zumindest in der, die wir mögen (sagen wir, etwa so wie Burnett, um eine sehr vage Vorstellung zu geben). Die einzige heterodoxe Besonderheit ist, daß die trockene Erzählung häufig von psychologischen» Einschüben unterbrochen wird, die die Gefühle und insbesondere die Ängste der Personen beschreiben, welche das Aussehen von echten Visionen annehmen. Es sind vielleicht diese Abschnitte, die vor allem an Dostojewski erinnern, ohne ihm zu ähneln. Und der Rest erinnert entfernt an Burnett. Und alles hält vollkommen zusammen. Daß das keine formale Extravaganz ist, ist vielleicht am erstaunlichsten.

Am Ende unserer stilistischen Promenade angekommen, bringt mich die boshafte Freude, «alles in Frage zu stellen», wie man einst sagte, dazu, euch ein Werk zu empfehlen, das gar keinen Stil hat. Boxcar Bertha13, eine Autobiographie, die von Ben Reitman zusammengestellt wurde (L'Insomniaque, 1994), ist im Jahre 1937 in Chicago erschienen (und wurde 1973 von Martin Scorsese unter der Leitung von Roger Corman verfilmt). Bertha, geboren zu Anfang des Jahrhunderts in einer libertären Umgebung, hat eine durchgängig marginale Existenz geführt. Ihr Leben als Eisenbahntramp, das ihr schon in der Kindheit ihren Spitznamen eingebracht hat, ist nur ein Teil ihres Lebens. Sie hat in unkonformistischen und rebellischen Milieus verkehrt, mit Herumtreibern, kleinen Dieben, und sie ist sogar eine Bordell-Prostituierte gewesen, sie hat ein bißchen im Knast gesessen, verschiedene Männer gehabt und sogar ein paar legale Jobs. Ihr Leben ist nicht nur deshalb faszinierend, weil diese Dame ständig von der Norm abweicht, sondern weil man spürt, welche Art von solidarischer Gemeinschaft die unteren Schichten der amerikanischen Gesellschaft in den Jahren 1920-1935 bisweilen bilden konnten.

Ben Reitman, der Verfasser des Werkes, ein ehemaliger Tramp, eine Zeitlang Geliebter der großen Anarchistin Emma Goldman, Armenarzt und Gründer eines «Hobo-Athenäums», hat die Aussagen von Bertha Boxcar [sic] sicherlich in keiner Weise verbogen.

Daß dieses spannende Gemälde der Vereinigten Staaten aus der Sicht der Straße keinen Stil hat, ist völlig unwichtig. Das «document brut», wie man so sagt, ist viel stärker. Eine gewählte Form hätte nur geschadet. Und dennoch muß man den Stil von Reitman angreifen. Am Ende aller Enden ist das Fehlen von Stil eine Frage des Stils. Muß man, um die Karten vollends durcheinander zu bringen, noch hinzufügen, daß das scheinbare Fehlen eines Stils noch etwas ganz anderes ist? Ich stieß die Tür auf und trat ein. Das Geräusch von Wasser kam von der Spüle. Ich sah in die Spüle (Hammett).

3 Rosen & Porree (1959)
4
Aus dem Leben eines Fauns (1953); Brand's Haide (1951,); Schwarze Spiegel (1951).
5 Nobodaddys's Kinder (1963).
6 Leviathan (1949).
7 Abend mit Goldrand. Eine Märchen-Posse (1975)
8 Night Book (1996)
9 Book of Love (1980).
10 Midnight Exammer (1989).
11 The Assassin (1928).
12 The Informer (1925). 
13 Sister ofthe Road: The Autobiography of Boxcar Bertha (1937).

 

- Jean-Patrick Manchette, Chroniques. Essays zum Roman noir. Heilbronn 2005 (DistelLiteraturVerlag, zuerst 1996)

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