Vita Arno Schmidt

 

Arno Otto Schmidt wird am 18. Januar 1914 in Hamburg-Hamm, Rumpfsweg 27, 3. Stock, geboren, Sohn des Polizei-Oberwachtmeisters (gelernten Glasschleifers und Berufssoldaten) Friedrich Otto Schmidt (30.1.1883 Halbau — 8.9.1928 Hamburg) und seiner Frau Clara Gertrud, geb. Ehrentraut (30.7.1894 Lauban — 17.10.1973 Quedlin-burg); die Vorfahren sind schlesische Weber, Gerber und Glasbläser. Meine Eltern charakterlich also etwa —: Vater egoistisch & leichtsinnich; Mutter—: empfindlich-nachtragend & klatschsüchtich-intrigant. Schwester Luzie Hildegard (18.3.1911 Lauban — 24.7.1977 New York), verheiratete Kiesler.

Ab Ostern 1920 Besuch der Volksschule Pröbenweg, ab Ostern 1924 der Realschule Brekelbaumspark.  In die Schule gegangen ganz-ungern. Ich war, in jedem Sinne, der geborene Autodidakt.

Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie im November 1928 nach Schlesien; wohnhaft in Lauban, Walkgasse 12. Ab Anfang Dezember Besuch der Oberrealschule in Görlitz.

Schmidt beginnt, Gedichte zu verfassen. Am 1.2.1933 schenkt er seinem Schulfreund Heinz Jerofsky die Gedichtsammlung »Schritte in der Nachtstille«.

Am 1.3.1933 erhält er sein Abitur: Ich pries den Expressionismus und wurde folglich um eine Eins in Deutsch gebracht. Vom März bis September 1933 besucht er die Höhere Handelsschule Görlitz, anschließend ist er arbeitslos.

Am 27.1.1934 schließt er einen Lehrvertrag als kaufmännischer Lehrling bei den Greiff-Werken in Greiffenberg, der >größten Berufskleiderfabrik des Ostens< ab. Nach Abschluß der Lehre am 31.1.1937 wird er dort als Graphischer Lagerbuchhalter angestellt.

Am 7.1.1935 schickt Schmidt Hermann Hesse, dem Dichter des Steppenwolfes in hoher Verehrung drei seiner Gedichte: »Verbrüderung«, »Trunkner im Dunkel« und »Die Wolkenlampe«.

Er beginnt die Arbeit an einer 7-und 10-stelligen Logarithmentafel, die er im Sommer 1948 fertigstellt. Es entsteht 1937 das Prosa-Fragment »Die Insel«.

Am 21.8.1937 Hochzeit mit der kaufmännischen Angestellten in den Greiff-Werken Alice Murawski (24.6.1916—1.8.1983).

Am 1.3.1938 Umzug nach Greiffenberg, Schützenstraße 4. Anfang August einwöchige Reise nach England: Besuch in Greenwich, London, Maidenhead, Windsor, Eton. Galerien, Museen und Dickens‘ Grab in der Westminster Abbey. Auch ich bin, den schnöden Filz in der Hand, davor hingetreten.

Mai 1939 Reise nach Weimar und Oßmannstädt.

Am 10.4.1940 wird Schmidt, der seit 1937 schon dreimal kürzere Wehrübungen abgeleistet hat, zur leichten Artillerie nach Hirschberg einberufen. Im August Dolmetscherlehrgang in Halle. Schmidt verfaßt in der Schreibstube der Artillerie-Kaserne in Hirschberg als Weihnachtsgeschenk für seine Frau zwölf »Dichtergespräche im Elysium« (1984 postum herausgegeben).

1941 Garnison Hagenau im Elsaß. 1942 bis Januar 1945 Schreibstuben-Dienst am Romsdalsfjord in Norwegen. In diesen Jahren entstehen Prosatexte: »Der junge Herr Siebold«, »Das Haus in der Holetschkagasse« (1941), »Der Garten des Herrn von Rosenroth«, »Die Fremden« (1942), »Mein Onkel Nikolaus« (Fragment, 1943) und »Pharos, oder von der Macht der Dichter« (bearbeitet veröffentlicht in »Abend mit Goldrand«).

Februar 1945 auf Fronturlaub in Greiffenberg, Haushalt und Bibliothek werden für die Flucht verpackt, Alice Schmidt flieht zur Schwiegermutter nach Quedlinburg (Harz).

Am 21.2.1945 Rückmeldung in Ratzeburg, anschließend Fronteinsatz im Oldenburgi-schen. Am 16.4.1945 gerät Unteroffizier Schmidt in Schwichteler bei Vechta in britische Kriegsgefangenschaft. Lager Villvoorde bei Brüssel, Luthe, Munster. Manche fingen wieder an um das Lager zu kreisen, zu zweien, zu dreien, stundenlang. Erinnerungen, Vorträge, Aufschneiden, Zukunft, Ansichten, Bilder, Gefühle: Diskussion! Das war es: Nie haben Soldaten so viel gequatscht. Es war die Reaktion auf Jahre des Schweigens und Stillstehens. Am 29.12. 1945 Entlassung nach Cordingen.

1946—1950 wohnen die Schmidts auf dem Mühlenhof bei Cordingen, Kreis Fallingbostel. Die — wegen ihrer Heirat mit einem jüdischen Kaufmann — nach New York ausgewanderte Schwester Lucie Kiesler unterstützt sie mit Care-Paketen.

Wie seine Frau Alice ist Schmidt als Dolmetscher an der Deutschen Hilfspolizeischule Benefeld tätig, ab Januar 1947 lebt er als freier Schriftsteller. Erster intensiver Aufenthalt in der mir gemäßen Landschaft (Heide, Moor, Flachland).
Es entstehen »Enthymesis«, »Leviathan« (1946); »Gadir«, »Alexander« (1948); »Mas-senbach« (1949); »Brand‘s Haide« (1950); daneben Arbeit an der Fouqué-Biografie.

Schmidt schickt Manuskripte an den Rowohlt-Verlag. 1949 radelt er nach Hamburg, um Ernst Rowohlt und den Lektor Kurt W. Marek (C. W Ceram) im Rowohlt-Verlag zu treffen. Am 10.3.1949 druckt »Die Zeit« einen Ausschnitt aus der Erzählung »Leviathan«, im September erscheint der Band »Leviathan«.

Im November 1950 Umsiedlung nach Gau-Bickelheim (Rheinhessen), Breitnebenstraße 229.
Am 14. 1.1951 überreicht Alfred Döblin in Mainz Schmidt (zusammen mit Werner Helwig, Hans Hennecke, Oda Schaefer, Heinrich Schirmbeck) den mit je DM 2000 dotierten Großen Literaturpreis der Akademie der Wissenschaften und Literatur. Im Herbst — im Zuge der Arbeiten an der Fouqué-Biografie — Besuch in der Staatsbibliothek München und in Tübingen. »Schwarze Spiegel« entsteht und wird gemeinsam mit »Brand‘s Haide« im Oktober 1951 veröffentlicht.

3. 12. 1951—2. 9. 1955 leben die Schmidts in Kastel, einem Dorf bei Saarburg (Rheinland-Pfalz), sie bewohnen zwei Zimmer bei Johann Neises, Hauptstraße 63. »Die Umsiedler« (1952), »Aus dem Leben eines Fauns« (1952/53), »Seelandschaft mit Pocahontas« (1953), »Kosmas« (1953/54) und »Das steinerne Herz« (1954/55) entstehen, etwas Honorar bringen Übersetzungen für rororo (Innes, Fleming, Paterson) und die verstreut in Feuilletons erscheinenden »Stürenburg-Geschichten« (1954—56).

Am 19.8.1952 lernt Schmidt, der für ein Interview mit Dr. Martin Walser beim Süddeutschen Rundfunk nach Stuttgart gekommen ist, Alfred Andersch kennen. Für die von ihm herausgegebene Reihe >studio frankfurt< bittet Andersch um ein Manuskript; Schmidt, inzwischen ohne festen Verlag, überläßt ihm »Die Umsiedler« und »Alexander« zur Veröffentlichung, In den folgenden Jahren versucht Andersch wie-derholt, für Schmidts Bücher einen Verlag zu finden. Er ermöglicht ihm ein regelmäßiges Einkommen, indem er Schmidt anregt, für die Redaktion >Radio-Essay< beim Süddeutschen Rundfunk literarhistorische Funkessays zu schreiben.

Wegen der im Januar 1955 in der neugegründeten Zeitschrift »Texte und Zeichen«, herausgegeben von Alfred Andersch, erschienenen »Seelandschaft mit Pocahontas« wird Strafanzeige gestellt gegen Schmidt, Andersch und den Luchterhand-Verlag wegen >Gotteslästerung und Pornographie<. 1 Leben für die Deutsche Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir Schwierigkeiten machen ! Ich protestiere hiermit feierlich dagegen, jemals als >Deutscher Schriftsteller< von dieser Nation von Stumpf böcken vereinnahmt zu werden ! Skriver: Die Akten wanderten von Berlin nach Trier, von dort nach Darmstadt, dann nach Koblenz und Stuttgart. Schmidt wird polizeilich vernommen, Hermann Kasack schreibt ein für Schmidt positives Gutachten. Am 26.7.1956 wird das Verfahren vom Stuttgarter Generalstaatsanwalt >aus objektiven Gründen< eingestellt.

Im Juni 1955 verkauft Schmidt seine Sammlung von Fouqué-Dokumenten und -Manuskripten an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach/Neckar.

Im August 1955 zweitägiger Besuch von Ernst Krawehl in Kastel; damit entsteht eine erste Verbindung zum Stahlberg-Verlag, die bis über die Übernahme durch den S. Fischer Verlag hinaus bestehen bleibt. Als erstes von Krawehl betreutes Buch erscheint im Oktober 1956 »Das steinerne Herz«.

Am 18.2.1956 liest Schmidt im Waldschülerheim in Schönberg/Taunus, es bleibt die einzige öffentliche Lesung aus seinem Werk. Der Veranstalter, Dr. Wilhelm Michels, bleibt Schmidt freundschaftlich verbunden.

Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Ernst Kreuder und dem Maler Eberhard Schlotter, die Schmidt am 24.9.1955 beim Umzug nach Darmstadt, Inselstraße 42, behilflich sind. Neben Materialsammlungen zum »Lilienthal«-Projekt entstehen »Tina oder über die Unsterblichkeit« (1955), die »Geschichten aus der Inselstraße« (1955—59), »Goethe und Einer seiner Bewunderer« (1956).

1956 Beginn der Auseinandersetzung mit Joyce und vor allem der Übersetzung von Georg Goyert: Nachdem ich 10 Jahre lang ein >Nachahmer Joyce< gescholten worden bin, habe ich nun endlich einmal, als Krawehl mir die deutsche und englische Ausgabe des >Ulysses< mitgebracht hatte, mich an diesen gemacht — ein großer Mann, zugegeben: aber es besteht natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit!

Im Oktober 1957 erscheint »Die Gelehrtenrepublik«.

1958 Publikation des »Fouqué« beim Darmstädter Bläschke-Verlag als Taschenbuch, Stahlberg bringt das Buch in einer Leinen- und einer Leder-Ausgabe.

Nach verschiedenen Plänen des Umzugs nach Kanada, Irland, die Schweiz oder nach Norddeutschland erwirbt er im November 1958 mit Unterstützung von Freunden das Haus Nr. 37 am Ortsrand von Bargfeld, Kreis Celle. Ich bin ja nu mal ein Heidedichter, allerdings etwas anderer Art als Fritz von der Leine, nich?

Hier entsteht 1959—1960 »Kaff auch Mare Crisium«. Mahnung daran, daß Uns=Allen demnächst eine Reduzierung von Kultur & Zivilisation >droht<: Hoffnung, daß man, bei Anwendung des bekannten >Minimums von Weisheit< wenigstens große Stücke der Kultur wird retten können.

Mit »Windmühlen«, »Der Sonn‘ entgegen...« (1960), »Schwänze«, »Kühe in Halbtrauer«, »Großer Kain« (1961), »Kundisches Geschirr«, »>Piporakemes! <« (1962), »Die Wasserstraße«, »Die Abenteuer der Sylvesternacht«, »Caliban über Setebos« (1963) erscheinen — meist in der politischen Zeitschrift »konkret« — die Erzählungen, die schließlich im August 1964 im Band »Kühe in Halbtrauer« zusammengefaßt werden. Schmidt zu »Caliban über Setebos«: Ich habe mir erlaubt, zweistimmig zu singen; mit 3000 Fiorituren & Pralltrillern, die eine erhebliche Kunst & Mühe erforderten.

Seine selbstgewählte Isolation durchbricht Schmidt, meist in Begleitung seiner Frau und des befreundeten Ehepaars Michels, nur zu einzelnen Ausflügen; 1963 Fahrt nach Barlt und Kiel (Frenssen-Studien) über Tellingstedt, im Mai 1964 nach Arnhem (Holland), im selben Jahr nach Husum und an die Eider.

Am 18.3.1964 nimmt Schmidt in West-Berlin den mit DM 10000 dotierten Fontane-Preis entgegen, die Laudatio hält Günter Grass.

Die von ihm angeregte und in der ersten Jahreshälfte 1962 durchgeführte Übersetzung von Wilkie Collins‘ »Die Frau in Weiß« erscheint 1965 und wird mit mehreren Auflagen und Lizenz-Ausgaben zu Schmidts >Bestseller<.

Am 28.9.1965 erhält Schmidt in Fulda die Ehrengabe für Literatur des Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie.

Im Dezember 1963 beginnt Schmidt in Zusammenarbeit mit dem von ihm geschätzten Hans Wollschläger eine Übersetzung der gesammelten Werke von Edgar Allan Poe, die Arbeit zieht sich bis Anfang 1973 hin. Parallel dazu Materialsammlung und Niederschrift der 1334 großformatigen Seiten von »Zettels Traum«, die er Ende Dezember 1968 fertigstellt; die Korrekturen am Text des Romans werden am 19.2.1969 abgeschlossen. Am 20.3. 1969 führt Schmidt in Bargeld für den Norddeutschen Rundfunk ein einführendes Gespräch zu »Zettels Traum«, das später auch als Schallplatten-Kassette herausgegeben wird.

1969 Fahrt nach Tellingstedt und an die Eider zur Materialsammlung zu dem geplanten Roman »Die Schule der Atheisten«.

Anfang April 1970 wird »Zettels Traum« ausgeliefert und stößt auf staunendes Interesse. Im August bringen Berliner Raubdrucker eine auf DIN A 4-Format verklenerte Ausgabe heraus. Das Schmidt angebotene Honorar lehnt dieser entrüstet ab, der Verlag stellt Strafanzeige gegen Unbekannt. Es müßte wirklich wieder so weit kommen, daß auf dem Nachdruckgewerbe ein Schimpf liegt wie auf jeder anderen schmutzigen Beschäftigung.

Im Herbst 1970 Fertigstellung der Übersetzung von Bulwer-Lyttons »Was wird er damit machen?«, an der Schmidt seit Oktober 1969 arbeitete. 1973 erscheint »Dein Roman«. Der Plan, auch noch Bulwers »Kenelm Chillingly« einzudeutschen, wird nicht mehr verwirklicht.

 

Frühjahr und Sommer 1971 Niederschrift von »Die Schule der Atheisten«, die im März 1972 erscheint.

Alice Schmidt nimmt am 28. 8. 1973 in Vertretung ihres Gatten den mit DM 50000 dotierten Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main in der Paulskirche entgegen. Die von ihr verlesene Dank-Adresse — Sei es noch so unzeitgemäß und unpopulär; aber ich weiß, als einzige Panacee, gegen Alles, immer nur >Die Arbeit< zu nennen. — sorgt für eine länger andauernde publizistische Aufgeregtheit.

Vom Juli 1974 bis Februar 1975 Niederschrift des Typoskript-Romans »Abend mit Goldrand«, für den er seit 1972 das Material gesammelt hat.

Im August 1975 vorübergehend Auslagerung eines Teils der Bücher und Papiere Schmidts wegen der ausgedehnten Wald- und Heidebrände in Niedersachsen.

1975—78 Übersetzung von James F. Coopers Littlepage-Trilogie: »Satanstoe«, »Tausendmorgen«, »Die Roten«.

Ab 1976 Materialsammlung zum nächsten geplanten Buch, »Julia«, die Niederschrift beginnt am 10.2. 1979.

Im Juni 1977 Bekanntschaft mit Jan Philipp Reemtsma, der Schmidt finanziell unterstützt.

Am 31.5.1979 erleidet Arno Schmidt einen Gehirnschlag, an dessen Folgen er am 3. Juni 1979 im Krankenhaus Celle stirbt.

Am 26.11.1981 gründet Alice Schmidt mit J. P. Reemtsma die Arno Schmidt Stiftung, die den Nachlaß betreut und das Werk Arno Schmidts herausgibt.

 

Von: N.N., aus: TEXT + KRITIK 20/20a, 4. Aufl. November 1986