[August Scholtis wurde am 7. August 1901 in Bolatitz / Oberschlesien als Sohn eines Häuslers und Musikanten geboren. Er wurde zunächst Maurer, dann durch Zufall Schreiber in der Privatkanzlei des Fürsten Lichnowsky. Später arbeitete er in Güterverwaltungen, Banken und Behörden und schließlich, nach einigen Jahren Arbeitslosigkeit, als Schriftsteller und Journalist in Berlin. Scholtis starb am 26. April 1969 in Berlin. Werke u. a.: ›Nachruf‹ (1927), ›Baba und ihre Kinder‹ (1934), ›Jas, der Flieger‹ (1935), ›Das Eisenwerk‹ (1938), ›Die Zauberkrücke‹ (1948), ›Ein Herr aus Bolatitz‹ (1959)]

WOLFGANG KOEPPEN

Mein Freund August Scholtis

1932 war ein schwankendes Jahr. Viele fühlten sich auf einem untergehenden Schiff, andere hofften mit Heil ein neues Ufer zu erreichen. Es war eine bewegende, furcht-erregende, auch erwartungsvolle Zeit der Not und der Enttäuschungen. Die Weltwirtschaftskrise ließ im Deutschen Reich die vernarbenden Wunden des Krieges von 1914/18 wieder eitern. Auf den Straßen und Plätzen lungerten die Arbeitslosen, damals von den Gesetzen kaum unterstützt, als arbeitsscheu beschimpft. Hindenburgs Präsidialregierung blieb der Erfolg versagt. Brüning, der letzte noch demokratisch gewählte Kanzler, wollte dem hungernden Volk die Sparsamkeit lehren und wurde aus Gründen mangelnder Strenge entlassen. Die Kabinette Papen, Schleicher scheiterten von vornherein, wurden Hindenburgs Verlegenheitskinder, eingesetzt und abgesetzt. Die Zeitungen berichteten von dem Skandal der Osthilfe; Millionensummen sollten die ostelbischen Rittergutsbesitzer vor dem Konkurs retten. In Städten und Dörfern schlugen in jeder Nacht Nationalisten und Kommunisten einander tot. Das Tagesgespräch war, kommt er, oder kommt er nicht, schafft er es noch, der Erlöser, der Führer, der Hitler, werden wir noch gerettet werden vor ihm.

1932, kurz vor Hitlers Machtantritt im Januar 1933, erschien im angesehenen S. Fischer Verlag der Roman eines unbekannten Autors, August Scholtis, »Ostwind«, und wurde eine Sensation auf dem Buchmarkt. Was waren sie denn, wie lebten sie, diese seit der Niederlage von 1918 weiter umkämpften, beklagten, gefährdeten Gebiete um Oder und Neiße, Schlesien, ein Agrarland, eine Kornkammer, durch Gottes Gnaden zusätzlich beschenkt mit Bodenschätzen, ein Industriekapital mit hohen Gewinnen in festen Händen.

Der Schriftsteller August Scholtis beschreibt später in seiner Autobiographie »Ein Herr aus Bolatitz« Dorf und Landschaft, aus denen er kam. »Der Zwiebelturm meiner Heimatkirche beherrscht als höchster Punkt im weiten Umkreis die Landschaft historischer Piastenherzogtümer von Teschen, Oderberg, Ratibor, Troppau und Jägerndorf. Von hohen Beskidengipfeln der Lysa Hora in vierzig Kilometer Entfernung und von Altvaterhöhen der Sudetenberge aus ist dieser Zwiebelturm bei klarem Wetter zu sehen: wachend über dem gesegneten Oppatal, den bewegten Hügelwellen des Mährischen Gesenkes, der historischen Mährischen Pforte, dem strategischen Jablunkapaß mit unentwirrbar durcheinanderwohnenden deutschen, mährischen, polnischen Menschen.«

August Scholtis selbst? Er war der Sohn eines Landarbeiters auf den Feldern des Fürsten Lichnowsky. Der Fürst besaß die Erde, ihm gehörten die Wälder, er erntete, er hatte mehr Schlösser, als er bewohnen konnte, um jedes Schloß blühte ein Park in hellenischer Art oder in Eichendorffscher Romantik, der Fürst wurde geliebt oder gehaßt, er war ein umstrittener Mann der Zeitgeschichte, hatte als deutscher Botschafter in London 1914 zum Mißfallen seines Kaisers den Krieg verhindern wollen und war verheiratet mit der wunderbaren Dichterin Mechtild Lichnowsky. Das Kind August Scholtis half beim Mähen, hütete die Kühe, reinigte den Stall. Er erinnerte sich später, »wir hatten zu essen«. Doch auch: »Beim Pflügen wurde es öfter unangenehm. Vater brachte sich eine mächtige Schnapspulle mit ans Feld, die er zwischen den Kühen hockend austrank. Ich hatte mit der leeren Flasche immer wieder ins Dorf zu laufen, um sie mit einer bestimmten Mischung von Nordhäuser und Breslauer Korn neu anfüllen zu lassen. Das machte täglich bis drei Mark aus. Dieses Schnapszeug schmeckte ich regelmäßig ab, es mundete vortrefflich. Manchmal war ich selber auch benebelt und machte alsdann platonische Liebeserklärungen für Entchen und Hedel, die beiden Gastwirtstöchter.«

Es waren große kleine Verhältnisse. Der Feudalherr begegnete dem Hütejungen. Oder war es die Fürstin als gute Fee? Sie holten August ins Schloß, setzten ihn, der nicht korrekt deutsch sprechen konnte, an die Schreibmaschine. Vielleicht hatte August der Fürstin ein schlesisches Märchen erzählt. Auf dem Acker bei einem Gewitter. Es war aber, daß sich der Kaiser zu der Zeit auf dem nahen Schloß Pless aufhielt und mit seinen Getreuen die Schlacht von Verdun beriet. Der aus dem diplomatischen Dienst entlassene Fürst Lichnowsky schrieb dagegen auf seinem Schloß seine Erinnerungen. Sie mußten geheim bleiben. Der Kaiser hatte die warnenden Berichte seines Londoner Botschafters idiotisch genannt. Und der kleine August Scholtis schrieb auf der Schreibmaschine aus der Handschrift des geschmähten Fürsten den Bericht »Meine Londoner Mission«, war der einzige, der es schon erfuhr, ein wahrhaft historisches Dokument von der Dummheit der Regierenden und für die Forschung nach 1918.

Das Schloß Lichnowsky war des Dorfjungen Universität. Er holte an jedem Morgen die Zeitungsberge für den Fürsten von der Dorfpost. Er las die Blätter vor dem Fürsten, zum Mißfallen des Fürsten. In der Vermittlung arbeitend, hörte er Telefongespräche des Schlosses ab; es waren die Stimmen noch immer sehr mächtiger Leute. Die Fürstin erhöhte das Gehalt des anstelligen Knaben auf hundert Mark. Für sein Dorf und seine Familie war August Scholtis von fürstlichen Gnaden reich geworden.

Wieso das endete, weiß ich nicht. Die Revolution war gekommen, der Kaiser war geflohen, die Fahnen waren gewechselt, nur die Standarte des Fürsten nicht. Polen und Tschechen ritten um das Schloß des Mannes, der recht behalten hatte. August Scholtis packte der Ehrgeiz. Er machte sich auf nach Berlin, ein Literat zu werden.

Berlin war nicht Bolatitz. Der junge Schriftsteller hauste in Armenabsteigen hinter dem Stettiner oder dem Schlesischen Bahnhof. Die Arbeiter der Stadt waren nicht die Landarbeiter seiner Jugend. Es waren Proletarier, organisierte Menschen, und Scholtis versuchte lernbegierig sich ihnen anzupassen. Er folgte den Demonstrationszügen, absichtslos, er holte sich nur das Bild. Er lernte Berlin kennen. Da waren Leute, die nichts zu essen hatten. Vielleicht erreichte Scholtis eines Tages das Romanische Café. Da saßen kluge Köpfe mit leerem Magen und lebten vom Schreiben. Scholtis bewunderte sie. Ihm halfen Mädchen weiter. Später wurden Männer auf ihn aufmerksam, der so still und so schäbig angezogen war. Sie luden ihn ein und vermittelten ihn an die Redakteure großer und kleiner Zeitungen. Der Verleger Fischer führte ihn in sein Haus, an seine Tafel, zu seinen berühmten Autoren. Das war möglich in Berlin.

Der Verlag S. Fischer veröffentlichte das Buch »Ostwind«. Da lag nun die Heimat in den Schaufenstern am Kurfürstendamm und wurde zum Zankapfel. Scholtis war etabliert in den literarischen, den kritischen, den politischen Kreisen. Es war ein Wunder geschehen. Der Junge aus Bolatitz hatte eine Zukunft. Nur leider war der Mann aus Braunau an die Macht gekommen. Das Romanische Café wehrte sich. Die Gäste verschwanden in alle Welt. Das schadete nicht. Hitler wünschte eine beschwichtigende, wehrtüchtige Literatur ohne Wahrheit, das Schrifttum, die Schrifttumskammer.

Die literarische Welt hatte sich gewandelt. Scholtis konnte sich nicht mehr auf den »Ostwind« zu seinem Ruhme berufen. Aber Scholtis hatte immer Glück und Pech im Leben. Die Nationalsozialisten wollten ihn wie viele andere Schriftsteller einsperren. Ein zersetzender Literat! Aber einige in braunen Uniformen dachten über Scholtis nach. Es gefiel ihnen seine Herkunft, ein Mann vom Lande, aus einfachstem Stall, aus Schlesien — so einen suchten sie. Blut und Boden. Aber Scholtis war nicht der Schriftsteller für Blut und Boden. Er entzog sich den neuen Mäzenen, und dann streichelten sie ihn nicht mehr. Er trat ihnen, bei ihren Versuchen ihn einzufangen, sehr mutig, ja hochmütig entgegen. Das imponierte ihnen manchmal.

Wieder schlug Scholtis sich durch. Schrieb noch zwei Bücher, kämpfte um die Druckerlaubnis. »Jas der Flieger« erschien bei dem jüdischen Verleger Bruno Cassirer, der noch immer an die deutsche Literatur glaubte. Das Buch fand kaum ein Echo. Und ist ein gutes Buch. Es schildert in ergreifender Weise das harte, kalte Berlin in jenen Jahren und in ihm den jungen Schriftsteller, der das Buch schreibt. Er hat Hunger und Ideale. Er träumt, ein Flieger zu werden. Kein Flieger, um zu kämpfen und zu zerstören. Er will sich in die Luft erheben, hoch über die Stadt und das Elend.

Später hatte Scholtis eine kleine Wohnung in Berlin. Das Zimmer beherrschte ein großer schwarzer Flügel, eine Leihgabe, Scholtis hatte viele Besucher, er versteckte verfolgte Juden und spielte Mozart und Chopin. Woher er das konnte? Er konnte eben viel, ohne es auf ordentliche Art gelernt zu haben.

Ich begegnete Scholtis einmal auf dem Kurfürstendamm Er kam in einer unsäglich schäbigen Uniform. Ich erkannte ihn nicht, bis er vor mir stehenblieb, seinen Arm hob und mit krächzender wütender, unterdrückter Stimme schlesisch »Heil Hietler« rief. Es war der Schrei einer gequälten Katze, die gleich beißen würde.

Nach dem Kriege schrieb August Scholtis, recht allein und fast schon vergessen, seine Memoiren »Ein Herr aus Bolatitz«. Es ist ein sehr deutsches Buch aus einer deutschen Zeit.

(Aus: August Scholtis, Jas der Flieger BS 961 1987)

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