Diesmal ist das Schimpfwort nicht "Dichter", sondern "Mystiker".
Als "mystisch"  mag man Handkes Vertrauen auf Epiphanien, auf den Augenschein ansehen, antimodern ist das überhaupt nicht, es stammt von James Joyce (unter anderen); aber Herr Jessen hat eben seine eigene Vorstellung von Moderne, die der Einfachheit halber mit Journalismus gleichgesetzt wird. Und der Schriftsteller wird einfach auf  private Obsessionen reduziert, das macht die Sache einfacherman, man erspart sich so die zeitraubende Wahrnehmung eines literarischen Werks.

Handkes Desinteresse "an Gerechtigkeit und Humanität" ist z.B. abzulesen (wenn man lesen kann oder auch nur will) an der Schilderung von "Raumverlust" - allerdings dem eines serbischen Zeugen ...

Das Gericht

                 Peter Handke verteidigt Milocevic gegen die Moderne

Von Jens Jessen

                 Es hat wenig Sinn, sich über Peter Handkes unverbrüchliche Treue zur serbischen
                 Sache aufzuregen. Auch in seiner Gerichtsreportage vom Den Haager
                 Menschenrechtsprozess gegen Milocevic, den das Magazin der Süddeutschen Zeitung
                 auf 16 Seiten druckte, ist wieder viel von der Voreingenommenheit des Westens und
                 wenig von den serbischen Verbrechen die Rede. Viel interessanter aber ist zu
                 beobachten, wie unpolitisch, wie letztlich auch an Gerechtigkeit und Humanität
                 desinteressiert Handkes Perspektive ist. Der Inhalt des Prozesses beschäftigt ihn
                 kaum; umso mehr das Drumherum. Vom Zuschauerbereich des Gerichtssaals aus ist
                 der Angeklagte nicht nur direkt, sondern auch auf Bildschirmen zu sehen. Das ist für
                 Handke aufschlussreicher als jede Zeugenaussage; zeigt es ihm doch abermals,
                 dass hier wie auch sonst in der westlichen Zivilisation alles nur mediale
                 Inszenierung, Wirklichkeitsverfälschung, wenn nicht gar Wirklichkeitsvortäuschung
                 wie im Fernsehen ist. Mit dem Vorhandensein der Kameras und Bildschirme erübrigt
                 sich für Handke die juristische Frage nach Schuld und Unschuld des Angeklagten.
                 Der wahre, der entscheidende Zeuge ist ihm der technische Apparat: Dieser hat
                 Milocevic frei- und das Gericht schuldig gesprochen.

                 Handkes obsessive Überzeugung von serbischer Tugend und westlicher Untugend
                 hat nichts mit Kriegsbeobachtung zu tun. Sie entspringt einem fundamentalen
                 antimodernen Affekt, einem rastlosen Hadern mit dem Vermittelten, Indirekten der
                 technischen Zivilisation. Das ist sein Schreibantrieb, das ist der Schaden, den er in
                 jedem seiner Bücher festzustellen und gleichzeitig zu therapieren versucht. Es ist
                 ein Motiv, das viel älter als seine Liebe zu Serbien ist, und mehr als ein Motiv. Es ist
                 sein dichterisches Verfahren, das immer schon zu einer Dingmystik strebte, die in
                 den berühmten "andersgelben Nudelnestern" der serbischen Küche nur abermals
                 formuliert wurde. Für Handke kann es in der Balkansache kein unabhängiges Gericht
                 geben, denn das Gericht ist selbst Partei, es ist die entfremdet schwatzende
                 Moderne, die "gegen den inzwischen fast stimmlosen Rest vom Rest der Welt" steht.

                 Der Anwalt des Stimmlosen aber ist Handke. Serbien ist ihm nur ein Beispiel, an dem
                 er seine Poetik durchfechten kann. Denn wie alle Mystiker will er durch die Literatur
                 hinaus aus der Literatur und etwas Wirkliches über eine wirkliche, nur vielleicht nicht
                 sichtbare oder jedenfalls durch Technik verstellte Wirklichkeit sagen. Es hat daher
                 keinen Zweck, den guten Dichter Handke von dem töricht urteilenden Zeitgenossen
                 Handke zu trennen. Das eine geht aus dem anderen hervor, und diese Einheit aus
                 Sympathie für den Dichter zu bestreiten ginge gerade gegen das, was diesem das
                 Kostbarste ist: nämlich die Einheit wiederherzustellen zwischen Wort und Sache, die
                 unsere Moderne zerstört hat. Das Gericht in Den Haag ist das falsche Gericht; in ihm
                 sitzt die Moderne zu Gericht über die Wahrheit. Das Gericht, das Handke halten will,
                 wäre aber eines, in dem die Moderne im Namen der Wahrheit verurteilt würde.

                                                                   (c) DIE ZEIT   42/2002    

                 Physiologus