Über die Kunst der politischen Lüge

Meine Freunde haben mich durch beharrliche Bitten dazu bewogen, den Aufsatz, den ich in der letzten Ausgabe meiner Zeitung begonnen hatte, zu unterbrechen und einen ›Versuch über die Kunst des politischen Lügens‹ zu schreiben. Man sagt uns, daß der Teufel der Vater der Lüge ist und vom Anfang her ein Lügner war. Diese Erfindung ist also zweifellos alt, und der erste Versuch des Teufels war außerdem rein politisch. Er diente dazu, das Ansehen seines Herrn zu unterhöhlen und den dritten Teil seiner Untertanen vom Gehorsam abzubringen. Dafür wurde Luzifer aus dem Himmel ausgestoßen, wo er (wie Milton es ausdrückt) Vizekönig einer großen westlichen Provinz war. Er muß seine Fähigkeiten jetzt in den unteren Bezirken betätigen, und zwar bei den anderen gefallenen Engeln oder den armen betrogenen Menschen, die er noch täglich zu seiner eigenen Sünde verführt und weiter versuchen wird, bis er im bodenlosen Abgrund an die Kette kommt.

Aber wenn auch der Teufel der Vater der Lüge ist, so scheint er doch, wie alle großen Erfinder, durch die beständigen großen Verbesserungen, die nach ihm gemacht wurden, viel von seinem Rufe verloren zu haben.

Wer als erster die Lüge zu einer Kunst gemacht und sie in der Politik angewandt hat, geht aus der Geschichte nicht ganz klar hervor, obwohl ich einige eifrige Nachforschungen angestellt habe. Darum werde ich sie nur nach dem zeitgemäßen Verfahren betrachten, wie es in den letzten zwanzig Jahren im südlichen Teil unserer Insel entwickelt worden ist. Die Dichter erzählen uns, daß die Erde, nachdem die Riesen von den Göttern überwältigt waren, aus Rache einen letzten Sproß, die Fama, hervorbrachte. Die Fabel wird so gedeutet, daß immer, wenn Tumult und Aufruhr zur Ruhe gebracht worden sind, Gerüchte und falsche Nachrichten in Unmengen im Volk verbreitet werden. Nach dieser Auslegung ist also die Lüge das letzte Hilfsmittel einer geschlagenen, niedrigen und rebellischen Partei im Staate. Aber die Heutigen sind hier weiter vorgedrungen. Sie haben diese Kunst benutzt, um die Macht zu gewinnen und zu bewahren, und ebenso, um sich zu rächen, sobald sie unterlegen sind. Auch die Tiere brauchen die gleichen Werkzeuge, um sich Nahrung zu verschaffen, wenn sie hungrig sind, und um zu beißen, wenn man auf sie tritt.

Dieser gleiche Stammbaum gilt aber nicht immer für die politische Lüge. Ich möchte ihn daher etwas veredeln, indem ich ein paar Einzelheiten über ihre Geburt und ihre Eltern hinzufüge. Eine politische Lüge kommt manchmal im Kopfe eines abgewirtschafteten Staatsmannes zur Welt und wird von ihm losgelassen, um beim Pack gepflegt und gehätschelt zu werden. Manchmal wird sie als Monstrum geboren und in die richtige Form geleckt, bei anderer Gelegenheit erscheint sie in vollständiger Gestalt und wird beim Ablecken verdorben. Oft wächst sie ganz regelmäßig wie ein Kind heran und braucht Zeit, um auszureifen. Oft tritt sie auch ausgewachsen ans Tageslicht, schwindet aber allmählich dahin. Zuweilen ist sie von hoher Abkunft und manchmal das Gezücht eines Börsenjobbers. Hier schreit sie schon laut bei der Geburt, dort wird sie flüsternd hervorgebracht. Ich kenne eine Lüge, die jetzt mit ihrem Lärm das halbe Königreich in Aufregung bringt. Sie ist heute zu stolz und groß, um sich zu ihren Eltern zu bekennen, aber ich kann mich noch gut an ihre Flüsterzeit erinnern. Zur Geburt dieses Untiers, nämlich der Lüge, noch eine abschließende Bemerkung Wenn es ohne Stachel auf die Welt kommt, wird es totgeboren und, sobald es den Stachel verliert, stirbt es. Es überrascht nicht, daß ein Kind, das schon so wunderbar geboren wird, zu großen Abenteuern bestimmt ist, und so sehen wir, daß die Lüge fast zwanzig Jahre lang der Schutzgeist der herrschenden Partei gewesen ist. Sie kann Königreiche ohne Kampf erobern und manchmal sogar mit Verlust einer Schlacht. Sie kann Ämter geben und nehmen, einen Berg zu einem Maulwurfshaufen zusammensinken lassen und einen Maulwurfshaufen zu einem Berg erheben. Sie hat viele Jahre lang bei den Wahlausschüssen den Vorsitz geführt, kann einen Neger weißwaschen, aus einem Atheisten einen Heiligen machen und aus einem Verworfenen einen Patrioten. Sie kann auswärtige Minister mit Nachrichten versorgen und das Ansehen der Nation steigern oder herabsetzen. Sie fliegt als Göttin umher, mit einem mächtigen Spiegel in den Händen, um die Massen zu blenden und ihnen, je nachdem wie sie ihr Werkzeug hält, Nutzen im Schaden oder Schaden im Nutzen zu zeigen. In diesem Spiegel entdeckt man seine Freunde in Mänteln, mit den Lilien Frankreichs und mit Papstkronen übersät, die Gürtel mit Ketten und Rosenkränzen behängt und in höl-zernen Schuhen. Seine schlimmsten Feinde aber sieht man mit den Zeichen der Freiheit, des Besitzes, der Schonung und Mäßigung geschmückt und mit einem Füllhorn in den Händen. Die langen Schwingen der Göttin gleichen denen eines fliegenden Fisches und sind nur zu gebrauchen, solange sie feucht gehalten werden. Deshalb taucht sie die Flügel in den Schmutz und verspritzt ihn in die Augen der Menge, wenn sie sich erhebt und mit großer Geschwindigkeit dahinfliegt. Aber alle Augenblicke muß sie wieder auf schmutzige Wege hinab, um sich neuen Vorrat zu holen.

Manchmal dachte ich, wenn doch ein Mensch die Gabe des zweiten Gesichtes für Lügen hätte, so wie einzelne Schotten Geister sehen! Wie prächtig könnte er sich in dieser Stadt unterhalten! Er würde die verschiedene Form, Farbe und Größe der Lügenschwärme beobachten können, die um die Köpfe einiger Leute schwirren wie die Fliegen im Sommer um die Ohren des Pferdes. Er sähe die Legionen, die jeden Nachmittag über der Börsengasse schweben, zahlreich genug, um den Himmel zu verdunkeln. Er würde eine Unzahl von ihnen über einem Klub unzufriedener großer Herren krei-sen sehen und erkennen, wie man sie von dort her in ganzen Ladungen hinunterschickt, um sie bei den zahlreichen Wahlen auszustreuen.

Ein politischer Lügner unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von seinen Geistesverwandten. Er braucht nur ein kurzes Gedächtnis; je nach den verschiedenen Anlässen, die ihm in jeder Stunde begegnen, muß er von sich selbst abweichen und beide Seiten eines Widerspruchs beschwören können. Es hängt ganz davon ab, wie die Personen, mit denen er zu tun hat, eingestellt sind. Bei der Beschreibung der Tugenden und Laster der Menschheit ist es in jedem Abschnitt der Rede angebracht, sich irgendeine hervorragende Persönlichkeit vorzunehmen, die sich als Beispiel und Mu-ster verwenden läßt. Ich halte mich immer streng an diese Regel, und meine Einbildungskraft führt mir in diesem Augenblick einen gewissen großen Mann vor, der wegen seiner Begabung zur Lüge berühmt ist. Ihrer ständigen Anwendung verdankt er seinen zwanzig Jahre alten Ruf. Er gilt nämlich als der geschickteste Kopf in England, wenn heikle Geschäfte durchgeführt werden müssen. Die Über-legenheit seines Geistes besteht nur in seinem unerschöpflichen Vorrat politischer Lügen, aus dem er, sobald er spricht, freigiebig und unaufhörlich spendet. Er vergißt seine Lügen in einer Großzügigkeit ohnegleichen und widerspricht sich folglich schon in der nächsten halben Stunde. Er hat noch niemals überlegt, ob ein Vorschlag oder eine Behauptung richtig oder falsch war, sondern nur, ob es im gegenwärtigen Augenblick oder bei der anwesenden Gesellschaft zweckdienlich wäre, zuzustimmen oder abzulehnen. Sucht man aber hinter seine Schliche zukommen, indem man alle seine Worte ins Gegenteil umdeutet, wie man es mit Träumen macht, so muß man immer noch suchen und wird sich weiterhin getäuscht finden, ob man ihm nun glaubt oder nicht. Am einfachsten stellt man sich vor, nur einige unverständliche und sinnlose Laute gehört zu haben. Damit verliert sich auch der Abscheu vor den Beteuerungen, mit denen er jede Behauptung an beiden Enden verbrämt. Und doch könnte man ihn nicht rechtmäßig wegen Meineids in Strafe nehmen, wenn er Gott und Christus anruft. Er hat nämlich häufig deutlich und öffentlich der Welt zu verstehen gegeben, daß er weder an den einen noch an den anderen glaubt.

Nun könnte man annehmen, daß eine solche vollendete Fertigkeit weder ihrem Besitzer noch seiner Partei sehr zu nützen vermöge, nachdem sie durch häufige Anwendung bekanntgeworden ist. Diese Annahme ist ein Irrtum. Nur wenige Lügen tragen das Kennzeichen des Erfinders, und der schändlichste Feind der Wahrheit kann tausende verbreiten, ohne daß man ihn als ihren Urheber erkennt. Der gemeinste Schriftsteller hat ebenso seine Leser wie der größte Lügner seine gläubigen Anhänger. Oft geschieht es, daß eine Lüge nur eine Stunde lang geglaubt zu werden braucht, um ihr Werk zu tun; sie hat dann keinen Sinn mehr. Die Falschheit fliegt, und die Wahrheit kommt hinterhergehinkt. Werden die Menschen dann die Täuschung gewahr, ist es bereits zu spät; der Stich hat längst gesessen, und die Lügengeschichte hat ihre Wirkung getan. Das ist wie bei einem Mann, der sich eine schlagfertige Antwort ausgedacht hat, wenn das Thema bereits gewechselt und die Gesellschaft getrennt worden ist; oder wie bei einem Arzt, der eine unfehlbare Medizin fand, nachdem der Patient gestorben war.

  In vielen Menschen habe ich die natürliche Neigung zum Lügen erkannt und bedacht, daß Unzählige daran glauben. Dadurch geriet ich in Verlegenheit, was ich mit dem Grundsatz: ›Die Wahrheit siegt‹, den jeder so häufig im Munde führt, anfangen sollte. Unsere Insel hier hat beinahe zwanzig Jahre lang unter dem Einfluß von Ratschlägen und Personen gestanden, deren Sinn und Ziel es war, unsere Sitten zu verderben, unsere Einsicht zu blenden, unseren Reichtum auszusaugen und mit der Zeit unsere Kirchen- und Staatsverfassung zu zerstören. Schließlich wurden wir bis hart an den Rand des Untergangs gebracht. Wegen der ständigen Verdrehungen sind wir aber niemals in der Lage gewesen, zwischen unseren Freunden und Feinden zu unterscheiden. Wir haben gesehen, wie ein großer Teil des Volksvermögens in die Hände von Leuten geriet, die durch Geburt, Erziehung und Verdienste allenfalls ein Anrecht auf eine Dienerstelle hatten. Andere dagegen, die durch Beliebtheit, Rang und Reichtum das Ansehen und den Erfolg der Revolution gesteigert hätten, wurden nicht nur als gefährlich und nicht verwendungsfähig beiseite geschoben, sondern noch mit den schändlichsten Vorwürfen belastet. Sie sollten Jakobiten, Männer unsicherer Haltung und Empfänger französischer Bestechung gewesen sein. Ich erinnere mich gut, wie die Whigs sich immer wieder darüber beklagten, daß die Mehrzahl der Grundbesitzer nicht auf ihrer Seite stehe. Die Klügsten von ihnen betrachteten dies als ein schlechtes Vorzeichen, und wir erkannten, daß sie nur mühsam die Mehrheit bewahren konnten, solange der Hof und die Geistlichkeit auf ihrer Seite standen. Dann aber kamen sie auf den wundervollen Ausweg, bei Wahlentscheidungen nachzuhelfen und weit entlegene Wahlbezirke durch ›nachdrückliche Parolen‹ zu beeinflussen. Das alles war nichts anderes als Gewalt und Zwang, die durch äußerst geschickte Kunstgriffe und Maßnahmen aufrechterhalten wurden. Endlich aber begriff das Volk, daß sein Eigentum, seine Religion und das Königtum selbst in Gefahr waren, und es erfaßte eifrig die erste Gelegenheit zum Eingreifen. Auf diesen mächtigen Umschwung in der Volksstimmung werde ich demnächst ausführlich eingehen. Dabei will ich mich bemühen, den Betrogenen und den Betrügern selbst klaren Wein einzuschenken, damit sie sich keine falschen Hoffnungen machen oder behaupten, es handele sich nur um einen kurzen Rausch der Volksmenge, von dem sie sich wohl bald erholen würde. Ich glaube aber, daß der Umschwung in seinen Ursachen, seinen Anzeichen und seinen Folgen etwas völlig anderes ist. Er wird sich als ein gewaltiges Beispiel für den eben erwähnten Grundsatz erweisen, daß schließlich doch ›die Wahrheit siegt‹. - Aus: Jonathan Swift, Satiren. Frankfurt am Main 1965 (Sammlung Insel 5)