Giorgio Manganelli: ManganelliDie Literatur als Lüge

Vor einiger Zeit zitierte jemand in einer Diskussion: » Solange noch auch nur ein Kind in der Welt an Hunger stirbt, ist das Verfassen von Literatur unmoralisch. « Ein anderer fügte hinzu: » Allerdings, so ist es immer gewesen.«

Nehmen wir an, daß die Weisheit der Regierenden, der unbeirrbare Zorn der Regierten und die fromme Mitwirkung von Wind und Wetter uns nach einigen Generationen die Ankündigung erlauben: »Ab heute, Montag, wird kein Kind mehr an Hunger sterben.«

Ob sich dann nicht ein redlicher und erleuchteter Vernunftsapostel zu Worte melden wird, um uns an die Selbstmörder, die frühzeitigen Tode, die Verbrechen aus Leidenschaft, die Alkoholiker zu erinnern? Oder ist nicht vielmehr dieser bevorrechtete Haß, dessen die Literatur sich seit jeher erfreut, ein Anzeichen dafür, daß der Mensch, vor allem aber jene Spezies, die ich den »humanen Mensehen« nennen möchte, schon immer eine unmoralische Tätigkeit in ihr geargwöhnt hat? Und wohnt nicht diese ihre Immoralität dem Rang ihres Gegenstandes, ihrer Funktion, ihrem scheinbar menschlichen Gestus inne, und ist eben darum unerträglich für den Menschen, der doch ihr Träger ist?

Es gibt Geschöpfe mit verfänglichem Haar, auf deren spitzen Gesichtern und abstrakten Hinterbacken ein Diktionär unendlich raffinierter Bilder prangt; ihr Körper ist zusammengesetzt und aufrechtgehalten durch eine Syntax aus Zeichen. Ein Netz von abenteuerlichen Isoglossen, schreienden und lautlosen, verwandelt zufällige Satzglieder in einen Diskurs, in ein künstliches Feuerwerk. Eine absurde und gebieterische Vornehmheit ziert diesen fremden Körper, der seinen Weg verfolgt, unbewußt Fahne, Gewirk und Wappen, grausam und geschwind. Nicht anders trägt der Mensch diese nutzlose und trügerische Flagge um sich, als Mantel und Schweißtuch, als unbequeme und kostbare Hülle, die nicht mit seinem Leib übereinstimmt. So wenig der Mandrill die Beredsamkeit seines polychromen Nacktarschs abtöten kann, so wenig können wir, o entzückender Fluch, dieses schmiegsame Wortflies von uns ablösen.

Es ist wohl wahr; die Literatur ist unmoralisch, und es ist unmoralisch, an ihr teilzunehmen. Sie wäre schon unausstehlich, wenn sie den Schmerz des Menschen unberücksichtigt ließe, wenn sie sich weigerte, ihn von seinen uralten Übeln zu befreien; statt dessen stochert sie in aller Unverschämtheit und mit störrischer Hingabe, sucht und gräbt Ängste, Krankheiten, Leichen hervor; voll leidenschaftlicher Gleichgültigkeit, voll verächtlicher Besessenheit, voll beharrlichem Zynismus wählt sie sie aus, stellt sie nebeneinander, trennt, manipuliert, schneidet sie zurecht. Eine eitrige Wunde schwillt zur Metapher, ein Blutbad ist nichts als eine Hyperbel, der Wahnsinn nichts als ein Kunstgnff, die Sprache auf nicht wiedergutzumachende Weise zu entstellen, ihr unverhoffte Bewegungen, Gebärden, Schlußfolgerungen zu entdecken. Jedes Leiden ist nichts, als eine Art der Sprache sich zu rüsten, zu handeln, wie es ihr beliebt.

Es besteht kein Zweifel: die Literatur ist zynisch. Keine Lüsternheit, die man ihr nicht nachsagen könnte, kein niedriges Gefühl, kein Haß, keine Ranküne, kein Sadismus, der sie nicht erfreute, keine Tragödie, die sie nicht in eisige Erregung versetzte und die behutsame, tückische Intelligenz reizte, die sie beherrscht. Und man sehe doch, wie verschämt, mit welch scharfsinnigem Sarkasmus sie dagegen die bloße Andeutung alles Ehrbaren behandelt.

Uralt ist der Zorn der Biedermänner auf die Literatur. Seit Jahrhunderten beschuldigt man sie des Betrugs, der Korruption, der Gotteslästerung. Oder nennt sie nutzlos und verderblich. Entheiligend und pervers wie sie ist, verführt und stiftet sie Verwirrung. Numinos und wankelmütig, zögert sie nicht, sich zum Schmuck ihrer Fabeln der Götter zu bedienen. Aber dank jener köstlichen Ironie, die ihr Schicksal ausmacht, vermag nur sie allein die Größe und den Ruhm jenes Gottes zu feiern, den sie zur literarischen Figur, zur Hypothese, zur Hyperbel entwürdigt und geadelt hat. Der furchtbare Blitzeschleuderer, einmal eingesponnen in das feine Netz der Rhetorik, hört vollkommen auf zu existieren; er verwandelt sich in Erfindung, in Spiel, in Lüge.

Verdorben wie sie ist, versteht sie, Frömmigkeit zu heucheln; von prunkender Ungestalt, besteht sie auf der sadistischen Strenge der Syntax; in ihrer Irrealität bereitet sie uns betörende und unversehrbare Epiphanien der Täuschung. Bar jeglichen Gefühls, benutzt sie alle Gefühle. Ihre Überzeugungskraft entsteht aus dem gänzlichen Mangel an Aufrichtigkeit. Erst wenn sie ihre eigene Seele fortwirft, findet sie ihr eigenes Schicksal.

Jedermann darf sich ihr nähern; niemand wird sich unbeschadet von ihr entfernen; schlimmer noch: niemand ist gegen sie gefeit. Kein noch so verwilderter Eremit, der nicht vom Literaturbazillus angekränkelt wäre. »Ciceronianus sum.» Daher die uralte Liebe und der uralte Haß gegen dieses wundervolle und unilätige Etwas, dieses grausame und gefügige Tier, diesen schonungslosen Allesfresser.

Manch einer, unter den immerhin nicht wenigen großen Schriftstellern, hat sich Gedanken gemacht, ob man die Literatur nicht ganz abschaffen sollte. Welch entzückendes Zerwürfnis mit den eigenen Eingeweiden. Andere, Liberale und Humanisten, wollten und wollen sie erziehen. Immer wieder träumt einer von einem Unantastbaren Leitfaden, in dem grundgelehrte Edelleute mit näselnder Stimme die Literatur zu edlen Missionen erziehen. Oder ein anderer entdeckt mit forensischem Eifer und kasuistischer Spitzfindigkeit, daß die Literatur doch im Grunde schon immer mit den besten Bestimmungen der Menschen zusammengearbeitet habe, daß sie aufklärend und willfährig sei. Man kratzt an ihrer Metaphernhaut, bis der Geist der Zeiten und eine ekle, weißliche Flüssigkeit, die »Weltanschauung» hervorquillt. Sie aber, die Kurtisane aus Berufung, weigert sich, eine tugendhafte Gattin, eine ehrbare, brave Gefährtin zu werden; vergeblich lauert man darauf, daß sie sich zur Erzieherin unverdorbener, heterosexueller Söhne mausert. Eher wird sie sich von der Kurtisane zur Hafendirne, zur Fernfahrerhure wandeln. Uns Sterblichen hält sie ihre Vorliebe für den Tod entgegen, diese unersetzliche, rhetorische Figur.

Es ist ein unerhörter Skandal. Aus diesem Grunde ist es so schwer, aus ganzem Herzen »sui sectatores« zu sein. Die Welt lockt uns, sie wünscht, uns als Gentlemen zu sehen. Wir könnten die Literatur als ein adùnaton, als etwas Unmögliches bezeichnen, und sie somit als Ganzes in eine rhetorische Figur verwandeln. Sie verhält sich dem Menschen gegenüber gleichgültig. Sie tritt nur unsofern in Beziehung zu ihm, als er aufhört, human zu sein. Von dem Augenblick an, da es ihr gelingt - und sei es implizit - ihn zu überreden, daß Leiden, Ungerechtigkeit und Grauen weiter nichts sind, als gradus ad parnassum, Erfindungen zur Schaffung einer nicht mehr perfektionierbaren Syntax, von diesem Augenblick an besitzt sie ihn, verführt ihn zur unsühnbaren Sünde, macht ihn zum Ehebrecher, zum Mörder und Lügner - und er ist glücklich darüber. Sie krönt ihn zum Deserteur.

Es gibt keine Literatur ohne Abtrünnigkeit, Unfügsamkeit, Gleichgültigkeit. Abtrünnigkeit wovon? Von jedem solidarischen Gehorsam, jeder Einwilligung ins eigene oder fremde gute Gewissen, jedem mitmenschlichen Gebot. In erster Linie entschließt sich der Schriftsteller, unnütz zu sein. Wie oft haben ihm nicht die nützlichen Menschen ihre alte Schmähung ins Gesicht geschleudert: » Hanswurst.« So sei es: der Schriftsteller ist auch Hanswurst. Er ist der fool: jenes Wesen, welches das Menschliche nur streift, welches die Gotteslästerung, den Spott, die Gleichgültigkeit in die Nähe des potentiellen Mordes treibt. Für den Hanswurst gibt es keinen Platz in der Geschichte, er ist ein lusus, ein Irrtum.

Vom Grund auf asozial, wird der Deserteur seine listenreiche Flucht abstimmen auf die zwingenden Strukturen seiner Zeit. Er verabscheut die Ordnung und das gute Gewissen, und die Komplizität der beiden ist ihm widerlich. Wo jener lächerliche middle aged, der MANN, triumphiert, muß er sich tarnen, muß Haken schlagen, muß die Flucht ergreifen. Muß sich tagtäglich mit tragischer und exakter Gebärde von den euphorischen Mythen des verlogenen guten Gewissens reinigen: der kollektiven Weisheit, dem Fortschritt, der Gerechtigkeit.

Mit unstetem, tückischem Blick sucht er beharrlich nach den Indizien der Gewalt, mineralischen Hieroglyphen auf einer Hand, die nur zum Teil menschlich ist, nach dem Moos, das unsern Mund überwuchert, nach den geometrischen Wundspuren der Zersetzung; er steht auf seiten des Todes, dieser schreienden, unüberbietbaren Ungerechtigkeit, dieses köstlichen Paradoxons, des ironischen Ortes, zu dem man gelangt, wenn man aufhört zu gehen. Er wählt sich unterirdische, nicht asphaltierhare Gänge als Aufenthalt. Ihn verlangt nach einer besonderen Freiheit, die für jeden Schriftsteller verschieden ist: keinesfalls ist es eine liberale Freiheit, und in der Tat, der Liberale toleriert sie nicht. Sie ist blasphemisch, zerstörerisch. Liebevolle Freiheit erstickt ihn, sie hat den Beigeschmack von ehrbarer, perfektionistischer Kollaboration. Er kann in jeder Atmosphäre überleben, sie muß nur verpestet sein. Wo die Finsternisse des Optimismus herrschen, ist er ein heimlicher Grenzgänger, der mit priesterlicher Umsicht den Tabernakel der Gifte hei sich trägt. Von Natur aus anarchisch, hält er stets Kontakt zu den Gängen der Unterwelt, jenen vorhangverhangenen, schlupiwinkeligen Labyrinthen, in die sich der tugendsame Blick des Humanisten nicht hineinwagt.

Die Literatur ist anarchisch und folglich eine Utopie: als solche löst sie sich ununterbrochen auf, um neue Form zu gewinnen. Wie alle Utopien ist sie infantil, aufreizend, verwirrend.

Literatur schreiben ist kein soziales Gebaren. Sie kann ein Publikum finden. In dem Maße jedoch, als sie Literatur ist, ist das Publikum nur ein provisorischer Adressat. Sie wird für ungewisse Leser geschaffen, solche die erst geboren werden sollen, dazu bestimmt, nie geboren zu werden; für solche, die schon geboren und andere, die bereits gestorben sind; auch für unmögliche Leser. Nicht selten setzt sie, wie das Selbstgespräch von Wahnsinnigen, die Abwesenheit des Lesers voraus. Der Schriftsteller hat daher Mühe mit den Ereignissen Schritt zu halten; wie in den alten Komödien lacht und weint er zur Unzeit. Seine Gebärden sind unbeholfen doch insgeheim exakt. Höchst unvollkommen ist sein Dialog mit der Zeitgenossen. Er ist ein blitzschneller Spätling, seine Reden bleiben vielen, sogar ihm selbst, unverständlich. Er spielt auf Ereignisse an, die nach zweihundert Jahren vorgefallen sind, die vor drei Generationen vorfallen werden.

Die Arbeit an der Literatur ist ein Akt perverser Demütigkeit. Wer mit literarischen Gegenständen umgeht, befindet sich im Zustand einer linguistischen Provokation. Als einer, der eingetaucht, umspült, hinabgerissen wird in Wortstrudel, gereizt von Signalen, Formeln, Anrufungen, von puren Sehnsuchtschreien einer Wortgruppierung, geblendet und versengt von erratischen Wortblitzen, als voyeur und Zeremonienmeister ist er berufen, Zeugnis zu geben von der Sprache, die ihm zukommt, die ihn gewählt hat als der Einzigen, in dem zu existieren ihr erträglich ist: der einzig verläßlicheche, reale Zustand, doch gleichzeitig irreal und unbeständig; ja eigentlich die einzige Existenzform des Dichters, sofern er sich al nichts anderes begreift, denn als witzigen Einfall, als Erfindung de Sprache, vielleicht als ihre ektoplastischen Genitalien.

Eingehüllt in die Spiralnebel, in die Sphären seiner Sprache, lebt der Schriftsteller nicht nur ungleichzeitig zu Geschehnissen, deren Chronologie mit seinem Lebenslauf zufällig übereinstimmt, er ist nicht einmal Zeitgenosse jener Schriftsteller, die seine Altersgenossen sen sind; es sei denn, sie hätten auf die eine oder andere Weise mit der gleichen Sprache zu tun; aber hierin läge eine metaphysische Übereinstimmung, keine historische. Ja, der quälende Anspruch der Sprache, die natürliche Untreue der Welt, bringen es mit sich, daß der Schriftsteller in einer immer wieder abreißenden Gleichzeitigkeitkeit mit sich selbst lebt. Es sind also nicht die historischen Ereignisse und nicht der Leitfaden der Literaturgeschichten, die uns eine Zugang zur Literatur verschaffen, sondern die Definition der Sprache, die in ihnen Struktur gewinnt.

Wie es den Zeugen widerfährt, so »weiß« auch der Schriftsteller nicht. Aber sein Nichtwissen ist von besonderer Art. Er ignoriert gänzlich den Sinn der Sprache, mit der er es zu tun hat; daher seine Macht seine Fähigkeit, diesen Sinn als ein Magma auszuleben, als eine Anhäufung von Unmöglichkeiten, Falschheiten, Lügen, Träumen, Spielen und Zeremonien. Und dabei ist er einer, der hart arbeitet an einer feindseligen und widerspenstigen Materie: aus der definitiven und illusorischen, unbeständigen und aggressiven Sprache muß er einen Gegenstand herausarbeiten, dessen kompakte und harte Vollkommenheit eine dynamische Zweideutigkeit abschließt. Ihn leitet nicht etwa der dichterische Einfall oder die Phantasie, sondern der Gehorsam; er versucht zu verstehen, was die Sprache von ihm will, diese barbarische und niederschmetternd orakelhafte Göttin; seine Unterwerfung ist phantastisch und völlig unangemessen. Solange er seinen Wortgegenstand bearbeitet, dauert dieser Zustand wissender Unwissenheit an. Nur was er nicht kennt, vermag er vollkommen zu gestalten. Der Gegenstand, der aus dem Zusammenwirken von Wissen und Unwissen hervorgeht, ist ihm fremd. Er weiß nur, er hat einen Sprengkörper gemacht, nach allen Regeln der Kunst, den einzigen und unabdingbaren Regeln, nach denen ein Sprengkörper hergestellt wird: aber er fragt sich nicht, zu wie vielen und wie immer gearteten Attentaten und von wessen Hand dieser unerschöpfliche Explosivstoff verwendet wird. Er verläßt sich allein auf die heimliche, gehässige Hoffnung, daß er im Laufe der Zeit alle verwunden möge.

So weiß denn der Autor über seine eigene Arbeit nicht einmal so viel, wie andere darüber wissen; er darf es auch gar nicht. Ja, er hat die unbestimmte Empfindung, daß dieses doppeldeutige Wesen, dem er mit der Leibesqual und heroischen Unwissenheit einer Mutter das Leben schenkte, durch jeden Versuch, seinen »Sinn« zu ergründen, geschändet wird. Und obwohl er von Anfang an weiß, daß es der Schändung anheimfällt, bereitet ihm der Gedanke, daß man seiner Bedeutung nachspürt, instinktiven Abscheu. Ein natürlicher Impuls wird ihn immer wieder »verneinen« oder überhaupt nicht «begreifen« lassen, was die anderen »verstehn«. Der literarische Gegenstand ist dunkel, dicht, fast möchte ich sagen feist, undurchsichtig, mit dichten Faltenwürfen, die unablässig ihr Aussehen wechseln, ein verschwiegenes Gewebe aus klangvollen Worten. Von Grund auf doppelsinnig, nach allen Richtungen durchforschbar, ist er ungreifbar und unerschöpflich. Das literarische Wort ist unbegrenzt glaubwürdig: dank seiner Doppelsinnigkeit ist es unversehrbar. Es strahlt eine Aura verschiedenster Bedeutungen aus, es will alles sagen und folglich sagt es nichts; in seinem zarten, unverderbli-ehen Fleisch birgt sich nicht der winzigste Tumor von »Weltan-schauung».

(Eine kleine zornige Randbemerkung: aus diesem wilden, erleuchteten Nichtwissen wird der Schluß gezogen, daß der Schriftstel1er nicht zu dem gemischten Intellektuellen-Syndikat zählt; abei niemals wurde ihm ärgerer Schimpf angetan, als dadurch, daß man ihn zum Schutze seiner gesellschaftlichen und historischen Würde jenem lächerlichen Fünften Stand eingliedern wollte; dann mag man ihn schon lieber Hanswurst schelten. Und übersehn wir auch nicht. daß die ziemlich widerwärtige Figur des Intellektuellen eine Erfindung der Humanisten ist; heute verkörpert sie die reaktionäre »genteel« -)

Das literarische Werk ist ein künstliches Gebilde mit ungewissem und ironisch fatalem Schicksal: es schließt, ad infinitum, andere künstliche Gebilde in sich; in einem metallisch gehämmerten Satz birgt sich eine schwirrende Metapher; sezieren wir die Metapher, so setzen wir harte, exakte Worte frei, Gehäuse glänzender Phänomene. Im Satzkörper ordnen sich die Worte zu zügelloser Strenge wie abstrakte Tänzer eines Zeremoniells. Sie versuchen die Hypallage, die sie in ein reziprokes Aphelium versetzt. Oder das Chiasma das ihnen spiegelbildliehe Unbeweglichkeit aufzwingt. Sie richten sich in Reih und Glied zur skandierten Prozession der Anaphora; erdreisten sich die Kreiselbewegung des Oxymorons, wagen die sanfte Ungebärdigkeit des Anakoluths. Die Thmesis mimt den schi zophrenen Anfall, das Homeotheleuton ist pure Echolalie. Die Sprachstruktur des Irrsinns findet ihre Entsprechung in der rhetori sehen Artikulation. Der paranoische Redesehluß vollendet sich in maniseh-depressiven Monolog. Ewig gleiehhleibendes Ziel der rhe torisehen Erfindung ist das Streben nach einem unbeugsamen Doppelsinn. Es ist dem Schriftsteller auferlegt, mit immer schärferer Bewußtheit an einem Text zu arheiten, dessen Sinn immer unverständlicher wird. Eisige Exorzismen entfesseln den dynamischen Ungestüm der Spracherfindung.

Den Bildern, Worten, verschiedenen Strukturen des literarischen Gegenstandes werden Bewegungen aufgezwungen, die die Strenge und die Willkür des Zeremoniells besitzen. Und in der Tat, im Zeremoniell erreicht die Literatur den Gipfel der mystifizierenden Offenbarung. Alle Götter und Dämonen gehören ihr, da sie tot sind. Wie könnte es anders sein: sie selbst hat sie getötet. Aber gleichzeitig hat sie die Stärke, die Gleichgültigkeit, die Wunderkraft aus ihnen gezogen. Die Literatur ist wie eine Pseudotheologie aufgebaut, in der ein ganzes Universum, sein Anfang und Ende, seine Riten und Hierarchien, seine sterblichen und unsterblichen Wesen gefeiert werden: alles ist richtig und alles ist gelogen.

Und hier sammelt sich die ganze phantastische Herausforderung der Literatur, ihre heroische, mythologische Unaufrichtigkeit, hier findet sie ihren Abschluß: mit ihren Sätzen »ohne Sinn«, mit ihren »nicht verifizierbaren Behauptungen« erfindet sie Welten, erdichtet sie unerschöpfliche Zeremonien. Sie ist die Beherrscherin des Nichts. Sie ordnet es nach einem Katalog von Mustern, Sinnbildern, Schemata. Sie reizt uns, fordert uns heraus, bietet uns das illusionistische, heraldische Fell einer Bestie dar, einen Sprengkörper, einen Würfel, eine Reliquie, die zerstreute Ironie eines Wappens.

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