Peter Handke, in "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms", st 56, 1972:

Marcel Reich-Ranicki und die Natürlichkeit

Es ist schwierig, über die Arbeiten des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki keine Satire zu schreiben; und es wäre unterhaltsam, Sätze aus seinen gesammelten Buchbesprechungen zu montieren. Aber diese Satire hätte, wie jede Satire, den Nachteil, daß sie ihren Gegenstand zwar lächerlich machen, ihn aber nicht in Frage stellen könnte; oder sie würde ihn zwar in Frage stellen können, ohne daß aber klar würde, warum denn der Gegenstand plötzlich fragwürdig sei.

Deswegen kann es nicht darum gehen, lächerlich zu machen oder zu beschimpfen, sondern auf die kritischen Modelle Reich-Ranickis aufmerksam zu machen. Zu seinen wohl wichtigsten Kritikschablonen gehören die normativen Sätze über die Wirkllichkeit: die Prüfungsfrage für den Schriftsteller lautet: »Nun sag, wie hast du‘s mit der Wirklichkeit?« In der Literatur, so meint Reich-Ranicki »fordert das Leben wieder sein Recht«. »Die nachprüfbare Wirklichkeit«, so meint er, »läßt sich auf die Dauer nicht ignorieren. « »Greift nur hinein ins volle Menschenleben... « das ist auch sein Satz. Über die Art dieses Greifens gibt es für Reich-Ranicki nichts zu fragen. Jener Schriftsteller ist in Ordnung, meint er, der schreibt, »wie ihm der Schnabel gewachsen ist«. Die Wörter »Natürlichkeit«, »Durchsichtigkeit«, »Klarheit« sind seine heftigstgebrauchten Lobeswörter. Literatur ist für ihn nicht etwas Gemachtes, sondern etwas Entstandenes Literatur soll natürlich sein. Da freilich Literatur nicht natürlich sein kann, soll sie wenigstens natürlich wirken. Reich-Ranicki betrachtet die gemachte Literatur als ein Stück Natur. Ähnlich wie die Vögel in jener antiken Anekdote pickt er nach den ganz naturgetreu gemalten Trauben auf dem Bild von den Trauben. (Sein kritisches Wortrepertoire diente in Schulaufsätzen zu Bildbeschreibungen.) Reich-Ranicki pickt nach Wörtern wie nach der Wirklichkeit. Formalistische Methoden beim Schreiben läßt er nicht gelten. Er hält sie nicht für Probleme der Literatur, sondern für private Schwierigkeiten des Literaten, mit denen »der Leser« nicht behelligt werden möchte. Das erkennbare Machen von Literatur verniedlicht Reich-Ranicki, indem er dafür das beliebte Wort »Basteln« verwendet; auch »Laborkunst« ist ein gängiges Automatenwort; Argumenten, die ihm entgegenhalten, daß das Basteln nur eine Suche nach noch nicht eingängig, das heißt, natürlich gewordenen Methoden ist, der Wirklichkeit des jeweils Schreibenden habhaft zu werden, begegnet er mit dem einfachen Hinweis auf bestimmte Autoren, die schreiben, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: diese Autoren strafen, so meint er, die Pseudoavantgardisten, die Totengräber der Literatur, mit ihren gutgewachsenen Schnäbeln Lügen. Daß auch die realistische Methode nicht Natur, sondern gemachtes Modell ist, daß sie am Beginn ihrer Verwendung gekünstelt und gebastelt gewirkt hat und nur durch den Gebrauch und die Gewöhnung natürlich erscheint, will er nicht merken. Er will auch nicht merken, daß auch schon viele der gegenwärtigen Bastelmethoden natürlich geworden sind: daß sie durch Wiederholung und Verbrauch für die verrotteten realistischen Methoden verwendbar geworden sind: daß sogar die Illustriertenautoren Sprachspiele verwenden und sich die einstmals ganz formalistisch und künstlich wirkende Methode des inneren Monologs als »natürlich« und »realistisch« angeeignet haben: der Formalismus, das Künstliche von heute, gehört immer schon zum Natürlichen, zum Realismus, von morgen. Reich-Ranicki will es nicht merken, daß jede literarische Methode, solange sie noch etwas taugt, künstlich erscheint indem sie sowohl den Vorgang des Schreibens als auch das Geschriebene als Gemachtes, Nicht-Natürliches, als Gegenwirklichkeit, in jedem Moment kenntlich macht: er hält einen richtigen erzählenden Satz, niedergeschrieben, für das natürlichste Ding auf der Welt; aber einen Satz, der, niedergeschrieben, kenntlich macht, daß ein richtiger erzählender Satz, kaum niedergeschrieben, das künstlichste Ding auf der Welt ist, beschimpft er als »modernistisch«, obwohl doch gerade dieser Satz vom natürlichsten Ding auf der Welt redet.

Die realistische Literatur hat wie das realistische Theater eine automatisierte Dramaturgie; während aber die Dramaturgie des Realismus auf dem Theater, die Vortäuschung von Wirklichkeit durch Bilder, immer mehr Zuschauern bewußt wird, so daß sie die erlogene Natur auf der Bühne nicht mehr aushalten, ist die genauer erlogene Dramaturgie der realistischen Literatur, die nicht durch Bilder, sondern durch Sätze die Wirklichkeit vortäuscht, in ihrem Automa-tismus und in ihrer angewöhnten Natürlichkeit bis jetzt erst wenigen bewußt geworden. Aneinandergedruckte Sätze überreden eben intensiver zu einer Vorstellung der damit suggerierten Wirklichkeit als die unechten Türen auf der Bühne, als überhaupt die peinlich sichtbare Dreidimensionalität der Bühne, die eine andere Wirklichkeit bedeuten will, aber dadurch nur um so beklemmender die weggeleug-nete Wirklichkeit der Zuschauer diese spüren läßt, freilich unfreiwillig.

So geht es auch mit der sogenannten natürlichen, realistischen Literatur, von der Reich-Ranicki meint, daß sie, gleichsam durch die Sätze hindurch, eine Wirklichkeit »sieht und sichtbar macht«: nicht diese Wirklichkeit wird als Bild sichtbar, sondern beklemmend zeigt sich dabei die Verlogenheit einer sich als natürlich gebenden Literatur, die blind macht für die Wirklichkeit der Sätze, einer Literatur, die jeden Satz als naturgegeben hinnimmt, als Bezeichnetes und nicht als Bezeichnendes, einer Literatur, die .die Schwierigkeiten beim Bezeichnen der Wirklichkeit mit keinem Wort überpüft. Aber es ist klar: Reich-Ranicki kann man mit Einwänden nicht kommen: er kennt die alte List, sich dumm zu stellen, weil er nicht argumentieren kann (und er ist nie fähig zu argumentieren, er äußert sich nur mit kräftigem rhetorischem Gestus). »Ich gestehe«, leitet er dann in der Regel seine Sätze ein. Nachdem er aber seine Verständnislosigkeit eingestanden hat, zieht er über das Nichtverstandene her.

»Warum erklärt die Kritik von Zeit zu Zeit ihre Ohnmacht oder Verständnislosigkeit?« schreibt Roland Barthes in den Mythen des Alltags: » ... es geschieht gewiß nicht aus Bescheidenheit; niemand fühlt sich wohler als jemand, der bekennt, daß er nichts vom Existenzialismus begreift, und niemand ist selbstsicherer als ein anderer, der verschämt eingesteht, daß er nicht das Glück habe, in die Philosophie des Außerordentlichen eingeweiht zu sein...«: das trifft, mit veränderten Themen, auf Reich-Ranicki zu, Er fühlt sich sicher, weil er auf das Einverständnis vieler hoffen kann: umfassend gebraucht er auch oft das Wort »Wir« oder das Wort »Der Leser« oder gar »Der arme Leser«:

Reich-Ranicki fühlt sich als Sprecher des Lesers, so wie etwa das Bürgerliche Gesetzbuch der Sprecher des ordent-lichen Durchschnittsmenschen ist. Bei diesem Leser ist Reich-Ranicki sicher: wenn er etwa schreibt (in fast jeder Besprechung), es gehe in der Literatur nicht darum, Wirk-lichkeit mitzuteilen, sondern sie zu »vergegenwärtigen«; wenn er (in fast jeder Besprechung) zur Beurteilung eines Autors Sätze dieses Autors entweder über eine seiner Per-sonen oder über einen anderen Autor auf den Autor selber anwendet, dann kann er der Zustimmung des ordentlichen Durchschnittslesers sicher sein: »Das habe ich mir auch schon gedacht!« sagt dieser. Richtiger würde er freilich sagen: »Das habe ich mir auch schon nicht gedacht!« Reich-Ranicki verläßt sich auf den Leser mit dem »unbestimmten Gefühl«, der dann »Aha!« sagen kann: da er selber, auf Grund eines völlig indiskutablen, schon seit langem mechanischen Vokabulars statt mit Urteilen nur mit Vorurteilen arbeitet, kann er sich auf die Vorurteile aller Welt getrost verlassen, In seiner Manier: er vergegenwärtigt nicht das Ergebnis seiner kritischen Arbeit, er teilt es mit, zumindest temperamentvoll, Jeder seiner Sätze ist schon fertig da, beliebig verfügbar, ist ein Kernsatz, der am Kern seines Gegenstandes vorbeigeht. Kein Satz argumentiert, etwa um zu einem Kommuniqué als Endsatz zu kommen:

seine Sätze sind alle schon Endsätze, sind Kommuniqués. Reich-Ranicki stellt sich schon lange keine Fragen über sich selbst mehr. Er, der unwichtigste, am wenigsten anregende, dabei am meisten selbstgerechte deutsche Literaturkritiker seit langem, kann freilich alle Angriffe mit seinem Kommuniquésatz abwehren: »Ein Literaturkritiker, der etwas taugt, ist immer eine umstrittene Figur.«  Von mir aus ist Reich-Ranicki unumstritten. (1968)

HD