Raymond Queneau:

DEFONTENAY

Als ich 1930 damit begonnen habe, entlang der Kilometer von Regalen in der Bibliothèque Nationale den »Literarischen Irren« auf die Spur zu kommen, hatte ich den Ehrgeiz, eine beträchtliche Anzahl »verkannter Genies« zu entdecken. Nach einigen Jahren hatte ich ein 700 Seiten umfassendes Manuskript geschrieben, unveroffentlichbar und unveröffentlicht, weder abgeschlossen noch abzuschließen. (Später sind Teile davon in einen Roman eingegangen.9) Das Ergebnis war nicht besonders. Nur reaktionäre Paranoiker und vergreiste Schwätzer waren ausgegraben worden. Der »interessante« Wahnsinn war selten. Die Auswahl geschah auf der Grundlage »weder Meister noch Schüler«. Erst später habe ich dann festgestellt, daß man eigentlich nicht von »literarischen Irren«, sondern von »Heterokliten« sprechen sollte. Immerhin war einer von ihnen (aber er war kein »Irrer«) eine Entdeckung, ein »verkanntes Genie«, ein echterVorläufer der Science fiction und von Michaux. Er heißt Defontenay und wenn ich recht verstanden habe, war er Doktor der Medizin, Autor eines »Essai de Calliplastie«, von dem es, wie mir scheint, mehrere Auflagen gegeben hat. Er hat ferner (1854) Etudes dramatiques (Theaterversuche) veröffentlicht (Barbokebas, Der Alte vom Berge, Orpheus, Prometheus). Doch das Buch, das ihm das Recht gibt, mehr als nur ehrenhaft in allen französischen Literaturgeschichten zu stehen, heißt: STAR ODER DER KASSIOPEIA Die wunderbare Geschichte einer der Welten des Weltraums. Sonderbare Natur, Sitten und Gebräuche, Reisen, Starliteratur. Aus dem Starischen übersetzte Gedichte und Komödien. Fantasio von Defontenay. Als Epigraph: Delectari maxime, semper et illico (eine petronische und fourieristische Maxime). Das Werk wurde 1854 bei Ledoyen, einem bekannten Verleger, veröffentlicht. Es ist ein 327 Seiten starkes Buch. Ich habe es nirgends angezeigt gesehen*. Es steht in der Bibliothèque Nationale' Y2 69.715.

Hier eine sehr ungenügende Zusammenfassung des Werks von Defontenay:

Ein Bolid stürzt über dem Himalaya ab. Man findet darin eine Cassette. Sie enthält starische Manuskripte. Der Autor erzählt die Entdeckung folgendermaßen:
» Trotz meines kalten Ekels angesichts dieses häßlichen Schauspiels
trieb mich doch die Neugier dazu
die himmische Masse genau zu prüfen
die einen Augenblick lang vielleicht in der Hand Brahmas
gelegen hatte oder die zumindest lange am Him-
mel umhergeirrt ist in den oberen Fluten
des Sternenmeers. Ich räumte den Schnee weg in dem dieser Stein
des Himmels lag und darauf konnte ich die glimmer-
artige und ein wenig rauhe Scheibe seines
Bruchs sehen geschmückt mit den leuchtendsten Paillet-
ten... «


(Diese typographische Anordnung weist bereits auf eine gewisse Originalität hin. Das hat es seitdem sogar nicht mehr wiedergegeben.) Das Sonnensystem ,Y der Kassiopaia setzt sich zusammen aus: einer Sonne, Ruliel, um die herum sich drehen:
1. Altheter (Sonne) »von durchsichtigem Grün«;
2. Star (Planet) und fünf Satelliten: Tassul, Lessur, Rudar, Elier (»eine diaphane, feste und kompakte Kugel, wie eine Kristallerde. aber durchsichtig wie die gute, erträgliche Luft«) und Urias (eine leuchtendrote Sonne);
3. Erragror
(eine Sonne »mit reinblauer Scheibe«).
Auf Star umfaßt die Vegetation unter anderem den Syphus, den Tarrios und den Bramil. »Das Blattwerk des Syphus ist von einer Orangenfarbe, die von der Samtigkeit des Blätterrands abgeschwächt wird; seine Blüten sind Trauben von zartem Grün...
»Wir streifen durch geheimnisvolle Wälder, in deren Baumdickicht, Korallen ähnlich oder grünen und gelben Madreporen, die mit schönen blauen, harten und widerstandsfähigen Blüten bedeckten Steinäste wie Elfenbeinklingen mannshoch emporragten. Diese Art Waldkoralle kam uns vor wie eine besondere Gattung monokotyledonischer Bäume, deren Epiderm einen sehr dicken Kalkbelag absondert, der dann, wenn er an der Luft hart wird, den Stamm und die Zweige wie ein Futteral umgibt und den Blüten die Konsistenz, den Glanz und die Härte des Porzellans verleiht. Der Tarrio ist ein Meerbaum, »der riesige Wälder über die flüssige Fläche der Ozeane hängt«. Was die Bramilen angeht, »so setzen sie sich mittels eines krallenbewehrten Tuberkelfußes, den sie in die feuchte Erde rammen, am Rande fließender Gewässer fest.« »Unsere unvorhergesehene Ankunft am Ufer eines Flusses verursacht dort einen eigenartigen Tumult. Unzählige Bäumchen mit grünen, leuchtenden Blättern fliegen wie Vögel auf und fliehen in die Lüfte, anstelle von Flügeln mit Zweigen und Blättern schlagend, und lassen sich in einiger Entfernung an den Böschungen nieder.« Die bemerkenswertesten unter den Tieren sind der Psargina, »ein Vierbeiner mit weichem, dichtem Pelz«, der eine »Innenhaut besitzt, die ein Gas abzusondern vermag, das fünfzehn- oder zwanzigmal leichter ist als die Luft und ihm erlaubt, sich wie ein Ballon in die Lüfte zu erheben«, und der Gitos, ein blauer Vogel mit goldenem Schnabel und goldenen Flügeln, ein domestizierter Vogel. Die Schiffe werden von Talersis, »riesigen Meerungeheuern« gezogen, die ein wenig an die Anti-Wale Fouriers erinnern.
Zwei Rassen bewohnten Star, die eine »vornehm, schön und stark«, die andere »klein und haarig«. Nur die erstere gehört der menschlichen Gattung an, die andere ist lediglich eine »Nation perfektionierter Tiere«, es sind die »Repleux«. Die Mischlinge zwischen Mensch und Repleux sind unfruchtbar; es sind die »Cetraciten«. Zu Anfang gab es drei Nationen: die Savelcen, die Trelioren und die Ponarbaten.


- Mythologie der Savelcen:
»Im Anfang war auf Erde und im Himmel Panether, der später der Fürst der Götter wurde. Doch neben ihm existierte auch seit Ewigkeit ein Oxiur, eine Art kleiner Wurm: Da Panether als Gefährten und Zeitgenossen nur Oxiur hatte, paarte er sich mit ihm, und daraus entstand eine Maikäferlarve.Als Panether dieses vollkommene Tier sah, vereinigte er sich mit dem Maikäfer und das Ergebnis dieser Vereinigung war die Fledermaus. Hier begann Panether bereits stolz sein Werk zu betrachten, und aus seiner Liebschaft mit der Fledermaus entstand der erste Mensch namens Poub und die erste Frau, die Minelis geheißen wurde. Ms Panether dieses wunderbare Geschöpf sah, wollte er es dem Mann streitig machen, doch der hatte Minelis bereits zu seiner Gefährtin gemacht, und die beiden ersten Menschen hatten zusammen mehrere Kinder. Es wird jedoch erzählt, daß Panether, wild vor Liebe und Begierde, Minelis zur Pflichtvergessenheit trieb und daß die Frucht dieser Untreue die Geburt mehrerer Götter war, die unter der Aufsicht und Herrschaft des großen Panether die Dinge der Natur lenkten. Die Götter, Söhne Panethers, waren unfruchtbar, aber die Menschen vermehrten sich unendlich.« Die Ponarbaten »hatten keine Vorstellung von Göttern. Ihre Philosophen oder ersten Moralisten schrieben die Schöpfung oder Urzeugung des Menschen jahrhundertelangen Veränderungen der Tiergattung zu, von denen einige Exemplare zufällig höhere Arten zeugten, die die Geschlechter begründeten. So ist ihnen zufolge der Mensch aus dem Repleux entstanden, der selber einige tausend Jahrtausende zuvor aus der nächst niederen Tiergattung entstanden ist und so weiter.« Die Salvecen huldigen dem Sternenkult; an der Stirnseite ihrer Tempel, die so etwas wie Museen sind, stehen folgende Worte: Arbeit und Verschwendungssucht. Die Salvecen waren religiösen Meinungsverschiedenheiten ausgesetzt; die Ponarbaten widmeten sich dem materiellen Luxus; die Tre lioren domestizierten die Repleux' und entdeckten die Menseden oder Longeviten der Insel Tustot, Menschen mit dunkelblauem Haar, »zartgrünen« Augen, geschlechtslos und unsterblich. Nach einer 800 Jahre währenden Periode der Ruhe gingen dem Auf treten der »langsamen Pest«, bei der man nach mehreren Jahren entsetzlicher Leiden an einem »Ubermaß an Wollust« starb, Erdbeben und Überschwemmungen voraus. Darauf verkündete Farnozas die Notwendigkeit des Selbstmords, des Mords und derAusloschung der menschlichen Gattung. Während dieser Zeit stellte Ramzuel, ein Bewohner der Insel Infressia, Untersuchungen über die Schwerkraft an, da er »die Möglichkeit erkannt hatte, seinem Handeln harmonische Ausgewogenheit zu verleihen, ohne die Kraft zu zerstören, die die Moleküle zusammenhält.« Mit Hilfe dreier berühmter und gelehrter Nemseden baut er zwei Abaren, riesige Maschinen in Eiform, »außen verkleidet mit einer Metallhülle, die lediglich an bestimmten Stellen von kleinen, mit einem Gewebe aus dem gleichen Metall bedeckten Verglasungen durchbrochen waren. Auf dieses Metallblättchen, das die Abaren von allen Seiten einhüllte, wurde nun die physikalische Einwirkung gerichtet, die die Grundlage von Ramzuels Endeckung bildete und die bei den von den Metallblättchen eingehüllten Körpern die Wirkung der Schwerkraft aufhob oder die Abaren sogar dazu brachte, gegen die Erdanziehung zu kämpfen.« Während Farnozas die letzten Menschen am Kap des Abgrunds vernichtet oder Selbstmord begehen läßt, verlassen Ramzuel, seine Fa milie und die drei Nemseden Star auf ihren beidenAbaren. Auf der Erde blieben nur noch die nicht von der langsamen Pest befallenen Cetraciten und Repleux zurück. Die Cetraciten stillen zugun sten ihrer Repleux-Verwandten einen Adel. »Die Menschen hatten keinen Adel gekannt. Der dumme und eitle Gedanke, der solche Unterscheidungen aufkommen ließ, wäre nie im Kopfe eines Menschen entstanden.« Bei den Repleux »bedeutete die Armee alles« und Portamt, der Gesetzgeber der Cetraciten, ließ »die Tyrannei eines religiösen Aberglaubens - den des Oxyure - schwer auf dem Volke lasten.« Die Abaren legen auf dem Tassul an, dem ersten Satelliten, der von »mit den Organen von Mann und Frau versehenen« Hermaphroditen bewohnt ist, und die »allein durch ihre eigene Fähigkeit in der Lage waren, Menschen zu zeugen und zu gebären ... Sie fanden in sich selber lebhaft sprudelnde Quellen natürlicher Glückseligkeiten. Das am weitesten verbreitete Tier dieses Globus ist eine Art Reptil, Kugel genannt, das, wie sein Name schon sagt, die Form einer Fleischkugel von fahlemWeiß, ohne sichtbare äußere Glieder oder Anhängsel, hat. Dieses Reptil lebt von trockenem Gras und es geht oder besser es rollt durch der Haut übermittelte Musketkontraktionen auf dem Boden. Es flößte den Stariern lange Zeit Ekel ein. Sie konnten diese fleischige Masse, die dick war wie ein Männerkopf, mit einer Mundspalte über zwei Löchern, in denen zwei immer starre, bewegungslose und wimpernlose Augen funkelten, nicht ohne Entsetzen sehen.« Ramzuel stirbt und hinterläßt etwa hundert Kinder Angesichts des allzu großen Wachstums der Bevolkerung verläßt ein Teil der Staria ner Tassul in Richtung Lessur »In Lessur haben Nord und Zephir unterschiedliche Düfte« und die Atmosphäre ist nicht blau, sondern golden. Bei den Lessurianern »hatten die Zeugung und die sie begleitende Lust als Beförderungsmittel häufig einen sympathetischen Magnetismus, dessen Entladung in einer selben Umarmung und einer selben Liebe die Lebenskräfte kombinierte.« Einige Starianer lassen sich in Lessur nieder, und zweihundert Jahre danach brechen fünfhundert von ihnen in Abaren nach Rudar auf Dort:

»In der Luft ein schwarzer Nebel
Wirft seinen Schleier, seinen Knebel
Weit über diese schwarze Erd'
Sowie den Himmel, unbekannt und doch begehrt.
Die Wasser, deren dichte Schlämme nützen,
Sie dringen vor und bilden schwarze Pfützen
Mitunter auch Morastkloaken,
Durch welche fahle Monster staken.«

Die Rudarianer sind groß, mager und knochig. »Ihre einförmig silbrige Haut strahlt in einem ziemlich leuchtenden Metallglanz. Ihr Kopf ist anslelle der Haare mit engstehenden, langen und glänzenden Schuppen bedeckt, die bei jeder Bewegung der Schädelmuskein ein Geräusch von sich geben, das dem der Klapperschlangen ähnlich ist. Ihre smaragdgrünenAugen haben feuergelbe Augäpfel und besitzen eine eigenartige Phosphoreszenz. ...
Bei den Rudarianern ist der Tod wirklich ein lebendiges und sichtbares Wesen; es ist eine stoffliche Gattung von der Form und dem Rauminhalt einer länglichen Blase, um die Außenhülle herum mit Membranen oder herabhängenden Lamellen versehen, die ihm als Flügel dienen. Diese Wesen, die nichts mit den anderen Wesen dieser Welt gemein haben, weder von der Organisation noch von der Art her, sind für die menschliche Gattung und für das Tierreich der alles verschlingende Feind und das Grab eines jeglichen Lebens, denn die einzige Nahrung, die die Existenz dieser Toten zu beleben und zu bewahren vermag, sind die Seele der Menschen und die Lebenskräfte der Tiere, die sie anzuziehen und aus der Ferne auszulutschen die Fähigkeit besitzen, wobei sich ihre Muskelhaut bläht. Nichts anderes als unstoffliche Seelen oder Lebensgeister können ihnen Nahrung sein und sie stärken. ...
Die Toten selbst können nur durch das heißeste Feuer umkommen, weshalb die Rudarianer Waffen erfunden haben, die, mit einem mächtigen Feuer geladen, manchmal auf einen einzigen Schlag die Vögel der Menschenbestattungen zu vernichten vermögen.«
Die Starianer machen auch eine Reise nach Elier: »Pflanzen und Minerale, Meere und atmosphärische Dämpfe sind hier absolut durchsichtig. Nur die Menschen und die höheren Tierarten heben sich vor allem durch eine milchige Lichtdurchlässigkeit ihres Körpers ab. Lediglich ihre Augen, wie die unseren kon struiert, sind von einem völlig undurchsichtigen Weiß. Die Muskeln dieser Menschenrasse sehen aus wie farbige Asbestbündel. Das Blut, das in ihren Adern fließt, ist der Lymphe gleich; das Venenblut scheint Chylus oder Milch zu sein.« Acht Jahrhunderte sind vergangen; die Starianer beschließen unter der Führung Marcucars mit hundert Abaren auf den »Mutterplaneten« zurückzukehren. Die Repleux unterwerfen sich sofort und die Starianer besetzen wieder ihren Planeten. Die drei ehrwürdigen Nemseden geben ihnen den »Kult des Menschen« zur Religion: Respekt, Vollkommenheit, Vergöttlichung des menschlichen Wesens. Das Ziel eines jeden individuellen Lebens ist es, »Gott zu werden«.
In politischer Hinsicht: Unabhängigkeit eines jeden gegenüber allen.
Beschränkung des Eigentums.
Der willentlich verursachte Schmerz ist eine Ruchlosigkeit und der Krieg eine. ...



* J.J. Marchand hat herausgefunden, daß Charles Monselet in La lorgnette litteraire darüber geschrieben hatte (1857), S. 69: »Defontenay. Seltsame, nebulöse Phantasie«.
9 Gemeint ist der Roman Les enfants du Limon (Die Kinder des alten Limon).


Aus: Raymond Queneau.: Striche, Zeichen und Buchstaben. Edition text und kritik - Frühe Texte der Moderne. München 1990 (orig. 1950)