unstgriff
Der feinste Kunstgriff, welchen das Christentum vor den übrigen
Religionen voraushat, ist ein Wort: es redete von Liebe. So wurde es
die lyrische Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das
Semitentum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist in dem
Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoffnung
Sprechendes, daß auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch
etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste
Mann denken dabei an die verhältnismäßig uneigennützigsten Augenblicke ihres
gesamten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen
hat; und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von seilen der Eltern,
Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimierten Geschlechtlichkeit,
haben im Christentum ihren Fund gemacht. - Friedrich Nietzsche, Menschliches Allzumenscliches
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