Es kamen so viele Menschen, daß sich der Professor eine Gasse durch die wartende Masse bahnen mußte. Über dreihundert waren eingetroffen, und immer noch strömten welche herbei, wahrscheinlich weil das Thema hieß: ›Wie durchschaue ich meinen Nebenmenschen ?‹. Doch war's dann nur ein akademischer Vortrag über schlankwüchsige, rundwüchsige und athletische Menschentypen, die in Lichtbildern gezeigt wurden. Hernach, beim Wein (Eugen war nicht dabei) gestand jener Professor dem Herrn Doktor Naschold, daß er seiner Vergangenheit im sogenannten Dritten Reiche wegen emeritiert worden war. Und Eugen wunderte sich, daß ihm Naschold, der doch sozusagen Widerstandskämpfer gewesen war, dies belustigt mitteilte, als ob er dächte: mundus vult decipi.

Weil man nun mit der Menschenergründung oder Menschenanalyse angefangen hatte, wollte Naschold eine Koryphäe dieses Gebiets präsentieren. Also schrieb er (Eugen setzte den Brief auf) an eine solche, und der Mann kam und redete über ›Psychose und Neurose als soziale Phänomene‹. Hiebei mochten wohl auch die vielen Fremdwörter anziehend auf die Leute wirken.

Eugen verkaufte Eintrittskarten, saß am Tischchen vor der Tür, nahm Wechselgeld aus seinem Zigarrenkistchen und riet einem Achtzigjährigen im schwarzen Anzug vom Besuch des Vertrags ab, weil nur noch Stehplätze frei waren; der aber wollte dann trotzdem hinein. Und Eugen meinte, diesmal habe der Kulturverein ein gutes Geschäft gemacht, doch stellte sich trotzdem ein Defizit heraus, weil die Hotelrechnung des Vortragenden beglichen werden mußte.  - Hermann Lenz, Ein Fremdling. Frankfurt am Main 1988 (st 1491, zuerst 1983)