ulturschande     1920 wohnte eine neunköpfige Familie in der Berliner Königsberger Straße 37 in einer Stube und einer Küche.

48jähriger Vater, 46jährige Mutter, vier Töchter im Alter von 20, 19, 18 und 15 Jahren, drei Söhne, 16, 11 und 6jährig. Soziologisch sehr interessant ist, was bis heute, also im Verlauf von etwas über vier Jahren, aus dieser Familie — wesentlich infolge Wohnungselends — geworden ist: Der Vater hat seine 17jährige Tochter mißbraucht und kam wegen Verbrechens der Blutschande ins Gefängnis; er befindet sich gegenwärtig in der Irrenanstalt Herzberge. Die Mutter ernährt sich als Lumpenhändlerin. Die älteste Tochter ist verheiratet und bewohnt die eben erwähnte Wohnung der Eltern. Die heute 23jährige zweite Tochter ist ebenfalls verheiratet: sie wohnt im Keller des Quergebäudes des gleichen Hauses, arbeitet nicht und treibt sich nachts herum. Ihr Ehemann sitzt im Gefängnis. Bei ihr wohnt die heute 22jährige dritte Tochter: Kontrollmädchen und seit kurzem spurlos verschwunden. Die jüngste, heute etwa 20jährige Tochter ist aus der Fürsorge entwichen. Die letzte Nachricht von ihr kam aus Italien, wo sie angeblich als Tänzerin mit einer Truppe umherzieht.

Der älteste, etwa 20jährige Sohn, sitzt wegen Urkundenfälschung im Gefängnis; er ist für seinen Vetter, da er gerade arbeitslos war, auf dessen Papiere ins Gefängnis gegangen. Der heute 16jährige zweite Sohn ist seit Jahren in guter Landstelle in Pommern untergebracht. Der jüngste, heute etwa 14jährige Sohn war ebenfalls auf dem Lande untergebracht, befindet sich jedoch jetzt bei seiner Mutter, die in einem stockfinsteren Keller (Königsberger Str. 37) bei der 86jährigen Großmutter und einem Bruder einwohnt. Dort schlafen vier Menschen in zwei Betten. - Victor Noack, Kulturschande. Die Wohnungsnot als Sexualproblem. Berlin 1925

 

Schande Kultur

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme