ulturen, zwei   Unterschied zwischen dem Geist der Geometrie und dem Geist des Feinsinns. Die Prinzipien des einen sind handgreiflich, aber abseits alltäglicher Anwendung, deshalb macht es Mühe, sich ihnen zuzuwenden, da die Gewohnheit fehlt; sobald man sich aber ihnen zuwendet, übersieht man die Prinzipien vollständig,. und man müßte einen völlig verkehrten Verstand haben, wenn man auf Grund von Prinzipien, die so faßbar sind, daß es fast unmöglich ist, daß sie uns entschlüpfen, falsch schließen sollte.

Die Prinzipien des Feinsinns aber sind im allgemeinen Gebrauch und jedem vor Augen. Man braucht sich weder nach ihnen umzuwenden noch sich Gewalt anzutun, man braucht nur ein gutes Auge, das aber muß gut sein, denn die Prinzipien sind so verstreut, und es gibt ihrer so viele, daß es fast unmöglich ist, keins zu übersehen. Nun, läßt man eins der Prinzipien fort, so führt das zum Irrtum, also muß man einen sehr sichern Blick haben, um alle Prinzipien zu sehen, und alsdann den rechten Verstand, um nicht Falsches an Hand bekannter Prinzipien zu folgern.

Alle Mathematiker würden demnach, hätten  gute Augen, feinsinnig sein, denn an Hand der Prinzipien, die sie kennen, urteilen sie nicht falsch; und die Feinsinnigen würden Mathematiker sein, könnten sie sich an den Anblick der ungewohnten Grundsätze der Mathematik gewöhnen. Der Grund, daß gewisse feinsinnige Menschen keine Mathematiker sind, ist, daß sie völlig unfähig sind, sich den Prinzipien der Geometrie zuzuwenden; der Grund aber, daß Mathematiker nicht feinsinnig sind, ist, daß sie nicht sehen, was vor ihnen liegt und daß sie, gewöhnt an die deutlichen und groberen Prinzipien der Geometrie, nur urteilen, nachdem sie die Prinzipien sich deutlich gemacht und angewandt haben, so daß sie sich im Gebiete des Feinsinns verirren, wo sich die Prinzipien nicht derart anwenden lassen. Diese sieht man kaum, eher fühlt man sie, als daß man sie sieht, und man hat unsägliche Mühe, diejenigen das Gefühl dafür zu lehren, die sie nicht selbst fühlen: derart feine und zahlreiche Dinge gibt es hier, daß ein äußerst empfindliches und genaues Empfindungsvermögen nötig ist, um sie zu empfinden und um richtig und recht von dem Gefühl geleitet zu urteilen, ohne daß man in den meisten Fällen fähig ist, sie wie in der Geometrie schrittweise abzuleiten, weil man hier die Prinzipien nicht derart besitzt und weil das zu unternehmen eine Aufgabe ohne Ende sein würde. Man muß sofort mit einem Blick das Ganze übersehen und nicht, zum mindesten bis zu einem gewissen Grade, im Fortschritt der Überlegung. Und also ist es selten, daß Mathematiker feinsinnig und die feinsinnigen Köpfe Mathematiker sind, weil die Mathematiker die Fragen des Feinsinns geometrisch abhandeln wollen und sichi lächerlich machen, wenn sie mit Definitionen beginnen und an Hand der Prinzipien fortfahren wollen, was nicht die Art ist, wie man solcherart Überlegungen anstellt. Nicht, daß der Verstand sie nicht anstellte, aber er tut dies stillschweigend, natürlich und kunstlos, denn der Ausdruck hierfür übersteigt alle Menschen, und das Gefühl hierfür eignet nur wenigen. Im Gegensatz hierzu verschlägt es den Feinsinnigen, die so daran gewöhnt sind, spontan zu urteilen, den Atem, wenn man ihnen Lehrsätze vorlegt, von denen sie nichts verstehen, und wo man, um einzudringen, erst die so unfruchtbaren Definitionen und Prinzipien durchschreiten muß, die sie so im einzelnen zu sehen nicht gewohnt sind, so daß sie den Mut verlieren und Widerwillen empfinden. Aber die Wirrköpfe sind niemals, weder feinsinnig noch Mathematiker.

Die Mathematiker, die nichts als Mathematiker sind, haben demnach einen klaren Verstand, vorausgesetzt, daß man ihnen alles durch Definitionen und Prinzipien erklärt, sonst sind sie wirr und unerträglich, denn sie denken nur richtig an Hand deutlich gemachter Prinzipien. Und die Feinsinnigen, die nichts als feinsinnig sind, sind unfähig, die Geduld aufzubringen, bis zu den ersten Prinzipien der Spekulation und Abstraktion vorzudringen, denen sie in der Welt niemals begegnet sind und die man dort nie braucht. - Blaise Pascal, Gedanken (Reclam-Auswahl, Stuttgart 1963, zuerst ca. 1660)

Kulturen, zwei (2)  Seit Kant gibt es zwei Kulturen, eine wissenschaftliche und eine literarische. Führt die wissenschaftliche Kultur ins Nicht-Wissen, indem dieses anwächst, je mehr man weiß, rennt die literarische, insofern sie sich noch für Philosophie hält, wie eine Ratte hilflos im Labyrinth der Sprache herum und läßt sich wie die Religionen zur Begründung der Macht jener verwenden, die an der Macht sind oder an die Macht wollen, insofern sie Literatur ist, ist sie vollends wirkungslos geworden, es sei denn, man messe der Mode Bedeutung zu. Man trägt Kultur, entweder von der Stange oder maßgeschneidert. Die vollständige Überflüssigkeit der Literatur ist ihre einzige Berechtigung. Es gibt keine erhabenere. - Friedrich Dürrenmatt, Georg Büchner und der Satz vom Grunde. Dankrede zur Verleihung des Büchner-Preises 1986. In: F. D., Versuche. Zürich 1991

Kulturen, zwei (3)   „Was ist Schönes daran?" — sagte jener Feldmesser nach einer Aufführung der Iphigenie — es wird nichts darin bewiesen!"   - Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882)

Kulturen, zwei (4)

- Regina Otteni, nach (kopf)

Kulturen, zwei (5)   Francis Crick und Gerald Edelman sind sich näher, als ihre publikumswirksamen Seitenhiebe vermuten lassen. Im Gegensatz zu ihren Mitarbeitern pflegen jedenfalls die beiden Institutsleiter das Gespräch. Bei der Einweihung des Neuroscience-Gebäudes ließ es sich Crick zum Beispiel nicht nehmen, seinem Nachbarn persönlich zu gratulieren. Und in einem wissen die beiden sich sogar völlig einig; in der Verachtung ihrer gemeinsamen Widersacher aus der Riege der Philosophen, die immer noch behaupten, Bewußtsein könne naturwissenschaftlich nicht erforscht werden. «Wenn Typen wie Chalmers vom <hard problerm sprechen, dann ist das, soweit ich sehen kann, absolutes Blablabla», wettert Edelman, und Francis Crick setzt sogar noch eins drauf, wenn er über die Philosophen sagt: «Deren Bilanz in den vergangenen zweitausend Jahren ist so armselig, daß ihnen eine gewisse Bescheidenheit besser anstünde als die Überheblichkeit, die sie gewöhnlich an den Tag legen.»

Den passenden Kommentar zum Verhältnis zwischen den Bewußtseinsstars findet der Neurophysiologe Vilajanur Ramachandran, der in unmittelbarer Nachbarschaft zu Salk und Scripps an der University o£ California in La Jolla arbeitet. Um in der Wissenschaft zu reüssieren, sagt er, müsse man folgenden Grundsatz beachten: «Sei demütig gegenüber der Natur, aber nicht gegenüber anderen Leuten.»  - (kopf)

Kulturen, zwei (6)

 

Unterschiede, kulturelle Kultur

 

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 
Unterbegriffe

 

Verwandte Begriffe
Synonyme