opfdunkel
Aus einer Farbe macht Gedächtnis ein lausiges Wort. Ein Felsmassiv stellt
es Dir auf einen Zehennagel. In seiner auflösenden Bewahrungsweise gleicht es
dem Möbelwagen. Allerdings sortiert es feiner. Man kann sich immer darauf verlassen,
daß man die Nasen bei den Hasen
und Henkelvasen, Tropfhahnen, Widderhörnern, Pyramiden,
Rettichen und Schiffsbugen finden wird, Falls man auch
Nasenlöcher benötigt, findet man die bei den Bullaugen, Jackenärmelmündungen,
Zwillingsgewehren und Würfelbechern. Und diese Öffnungen sind, das ist das Geheimnis
des Memorialmagazins, so m einander gefügt, daß i Mio Öffnungen im Gedächtnis
noch nicht den hundertsten Teil eines Stecknadelkopfes Platz brauchen. Das Auflösungsvermögen
unseres Gedächtnisses nimmt denn auch auf wahre Größe keine Rücksicht. Ich glaube,
die Erscheinung wird in eine Funktion verwandelt. Auf Bedeutung wird gepfiffen.
Die kopfinnere Lebensweise besteht aus Abhängigkeiten.
Je länger so ein Kopfdunkel existiert, desto mehr wird darin
von einander abhängig gemacht. Nur was abhängig gemacht werden
kann von einem schon vorhandenen Datum, kann überhaupt dazu kommen.
Und was dazu kommt, muß aufgehen im dimensionslosen Alphabet
der Abhängigkeit. Aber es gibt wohl kein einziges Datum,
das nur von einem einzigen anderen Datum abhängig gemacht werden
müßte, und dann hätte man's schon im Gedächtnis. Jedes Datum
wird in ein ganzes System von Abhängigkeiten
eingewiesen, kann dann unter den verschiedensten Stichwörtern
ekphoriert werden, von der mechanischen Assonanz bis zu exakten
Verweisen in den Zusammenhang der zeitlichen oder räumlichen
Herkunft (also weckt, wer Kirchenglocken weckt, bei mir auch
Zopfbrot, wollene Strümpfe, Sonntagmorgen etc.) Das alles ist,
so unüberschaubar es scheint, kein Wunderwerk.
Erstaunender und immer noch fabelhaft, und das mächtigste und
anziehendste Geheimnis überhaupt,
ist aber der Verkehr, den die Daten mit einander haben, ohne
daß man's weiß. Ein Verkehr, der mörderisch sein kann, für den,
in dem er sich ereignet. Ein Verkehr, der mit so hoch geachteten
Namen bezeichnet wird wie Phantasie
und Seele. - Martin Walser,
Das Einhorn. Frankfurt am Main 1966