Kopf, gesenkter  Auf dem Deck der Fähre hielt sich seit längerem jemand beständig an meiner Seite, stand beinahe wie zugehörig neben mir, ohne daß es mir sogleich aufgefallen wäre. Erst als die Fähre unterhalb einer Moschee anlegte und die Passagiere schon um den Ausstieg versammelt waren, sah ich unter mir die fleischfarbenen, mattlackierten Halbschuhe, die mich vertraulich begleiteten, bemerkte ich ihre feine, durchbrochene Lasche, dann auch die undurchsichtigen beigen Strümpfe, den dreiviertellangen, dunkelbraunen Rock mit einer verspielten Seitenfalte — und mehr nicht; denn ich befand mich in einer Gemütsverfassung, die mir ein weiteres Anheben des Kopfs, selbst wenn ich den Willen dazu gehabt hätte, nicht erlauben wollte, und schon gar nicht, um mich für irgendeinen fremden Menschen zu interessieren. Als ich aber die Fähre verließ, mußte ich feststellen, daß die fleischfarbenen Schuhe sich geschmeidig an meine Schritte anpaßten. Ich trat auf den Platz vor dem Anlegesteg, und sie waren immer noch neben mir, obgleich sich die Traube der Fahrgäste, die uns vorher zusammenschloß, längst aufgelöst hatte. Ich blieb stehen, und ebenso verhielten sich die schlanken, unbekannten Beine, die so wenig nach landesüblichem Geschmack bekleidet waren. Gemeinsames Halten, gemeinsames Fortschreiten, und dies in einem solch gelassenem Einklang, als wären hier zwei Menschen schon vieltausend Schritte miteinander gegangen! Es war aber zu diesem Zeitpunkt nicht meine Sache, mich mehr zu verwundern als zu trauern. Und deshalb konnte und durfte mich auch diese zutunliche Begleitung nicht aus meiner Besinnung, aus meinem Gedenken reißen. Geheimnisvoll war es indessen doch, wie diese angeglichenen Schritte mich in ein Gefühl von Vertrauen und tiefer Bekanntschaft einwiegten. Gleichsam als hätten sich unsere Rhythmen — unter Umgehung von Gewohnheit und Lebensdauer — so tief gefunden, daß wir nun augenblicklich das Wesen und Gehabe einer langjährigen Zugehörigkeit erfüllten. Denn nicht die Unbekannte führte oder verführte mich, so wenig wie ich sie mitzog, sondern unsere verständigten Schritte steuerten einem selbstermittelten Ziel entgegen. (Dies konnte im übrigen nicht mein Hotel sein, das auf einer Anhöhe am zentralen Taksim-Platz lag, während unser Weg in der Ebene weiterführte, am Bosporus entlang, offenbar in einen vorgelegenen Stadtteil hinaus.)

Nach einiger Zeit spürte ich, wie die bitterste Trauer ein wenig nachließ, der Reuekrampf sich ein wenig löste. Sogar eine Spur von Trost zog ein, daß ich nämlich in der Fremde, an diesem schweren und öden Tag nicht ganz allein dahin-schritt und mich, auf eine freilich dunkle Weise, um nichts weiter zu kümmern brauchte. Solange jedenfalls dies grundgemeinsame, anspruchslose Gehen anhalten würde. Dennoch war ich nach wie vor nicht in der Stimmung, meinen Kopf aufzurichten. Wie einer, der sich unter steifgewordenem Nacken beständig krümmen muß, brachte ich es einfach nicht über mich, den Blick über ihre Kniehöhe zu erheben und endlich diese zugelaufene, urvertraute Person offen anzusehen.

Es zeigte sich aber, daß zumindest ihr das Ziel im voraus bekannt war, das nur scheinbar der Regelkreis unserer gegenseitigen Begleitung von selber erwählte. Denn nach einer Weile war sie es, die anhielt, um die Fahrstraße zu überqueren, und ich folgte ihr nun schon willenlos.   - Botho Strauß, Der junge Mann. München 1984

Kopfhaltung

Oberbegriffe
zurück 

.. im Thesaurus ...

weiter im Text 

Unterbegriffe

VB

 

Synonyme