- Ernst Schwarz, Vorwort zu (
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Konstitution (2) Auf Grund mangelnder Pflege
durch meine erste Amme mit etwa anderthalb Jahren von den Ärzten aufgegeben.
Mein Vater zog nach Courbevoie. Ich war zehn Jahre alt, schlief in einer engen,
feuchten und stickigen Kammer ohne Licht. Mit sechzehn Jahren nach Paris zum
Arbeiten geschickt; brach früh um halb sieben mit 5 Sous für das Mittagessen
von Courbevoie auf, hatte mitten im Winter durchlöcherte Schuhe an, Mantel und
Flanellweste kannte ich nicht, kam um halb acht Uhr nach Courbevoie zurück und
fand nur etwas zum Essen vor, wenn zufällig vom Abendessen meines Vaters und
seiner Lebensgefährtin etwas übriggeblieben war. Verließ das Haus meines Vaters,
um ein, zwei Jahre mit Jeanne und ihrer Mutter sehr kärglich von meinen Bezügen
bei der Zeitung La Rfpublique franfaise zu leben. Lebte anschließend allein
in einem Zimmer im sechsten Stock in der nie Monsieur-le-Prince von etwa 3 Francs
wöchentlich. Nach meinem dreimonatigen Militärdienst und meinem dreimonatigen
Aufenthalt im Militärhospital Val-de-Grâce nahm ich mein einsames Leben in Paris
wieder auf und ernährte mich von meinem 20. bis etwa zu meinem 28. Lebensjahr
regelmäßig von einer Blutwurst, einem Stück Brot, einem Glas Wasser und einem
Glas Kaffee zu jeder Mahlzeit, so daß es mir später schwerfiel, wieder wie andere
Leute zu essen. Besser war das Essen während der Jahre, die ich mit Blanche
zusammenlebte. Soviel zur Ernährung. Von 1908 an, als ich die Theaterkritik
für den Mercure übernommen hatte, bis in meine ersten Fontenayer Jahre bin ich
zu Fuß ins Theater und zurück gegangen. Als ich dann in Fontenay wohnte, fuhr
ich früh in mein Büro im Mercure, kam zum Mittagessen nach Fontenay zurück,
fuhr wieder in mein Büro im Mercure, fuhr dann zum Abendessen zu mir nach Hause
und brachte die Vorräte für meine Tiere mit, Abfälle und Fleisch - oft recht
schwere Lasten -, ging von der Gare du Luxembourg aus immer zu Fuß ins Theater,
kam zu Fuß zu meinem letzten Zug, verpaßte ihn manchmal und ging dann noch zu
Fuß nach Fontenay zurück, brachte anschließend drei lange Abende von 8 Uhr bis
1 Uhr morgens damit zu, meine Theaterkritik zu schreiben, ich, der ich vorher
schon immer lange abends wachgeblieben war (was als so entkräftend gilt), da
mein eigenes Leben immer auf die Abende beschränkt gewesen ist und ich meinen
Lebensunterhalt immer durch eine Anstellung habe verdienen müssen. Zwischen
meinem 30. und meinem 35. Lebensjahr zwei Tripper, jedesmal kompliziert durch
Gelenkwassersucht im Knie und Augenschäden, die mich zwei gute Monate ans Bett
fesselten, wonach ich erst richtig wieder gehen lernen mußte, ohne daß ich in
den Gelenken, den Geschlechtsteilen oder den Augen das geringste zurückbehalten
hätte, was ganz ungewöhnlich ist; bin mit meinen siebzig Jahren noch genauso
lebhaft, behende, geschmeidig und denkbar rüstig. Seit sechs Jahren bin ich
ohne Haushälterin. Ich versorge mein Haus selber, wenn auch nicht gerade glänzend;
ich bereite mir meine Mahlzeiten, koche für meine Tiere, wasche selber meine
Leibwäsche und finde auch noch Zeit, in meinem Garten zu werkeln. Vor zwei Jahren
habe ich selber - bis auf die Decke - eines meiner Zimmer sowie die Fensterrahmen
in den anderen Zimmern wieder hergerichtet. Allabendlich gehe ich meiner Tiere
wegen an die zehnmal die Treppe meines Häuschens hinauf und hinab und kontrolliere,
ob meine Katzen alle da sind. Körperliche Erschöpfung habe ich nie gekannt und
kenne sie auch jetzt nicht. Meine Kindheit und meine Jugend sind entbehrungsreich
gewesen und mehr als das, es hat geschlechtliche Mißgeschicke, es hat Arbeit
und Tätigkeit gegeben - ich bin noch immer auf dem Posten. Ich erinnere mich,
was Professor Delbet mir sagte, als ich ihn — ich war damals etwa sechzig Jahre
alt - wegen starker Schmerzen in der Nierengegend aufsuchte. Er untersuchte
mich sehr gründlich, dann meinte er: «Sie sagen, daß Sie unter diesen Schmerzen
leiden. Ich glaube Ihnen das gerne und glaube auch, daß Sie es nicht einfach
so sagen würden. Nach Ihrem jetzigen Befund allerdings könnten Sie, wenn Sie
auf dem Lande, an der frischen Luft lebten, hundert Jahre alt werden.» Vor rund
zehn Jahren hat Saltas mich von einigen seiner Kollegen, alles Kapazitäten,
untersuchen lassen. Ein- oder zweimal war das Ergebnis der Untersuchung: vorzeitig
verbraucht. Und wenn ich zu ihnen sagte: «Vorzeitig verbraucht? Aber ich kenne
keine Erschöpfung. Ich kann drei Nächte hintereinander
und dazu tagsüber durcharbeiten, ohne etwas Nachteiliges zu spüren.» Dann
antwortete jener: «Da haben Sie aber Glück. Ich bin 40 - oder 45 - Jahre alt
und wünschte, ich könnte von mir dasselbe sagen.» Ich kann hinzufügen, daß ich
mit der Geißel während unseres ganzen Verhältnisses, von 1914 bis 1932, glaube
ich, also zwischen meinem 42. und meinem 63. Lebensjahr, auf ganz beachtliche
Weise beigeschlafen habe und anschließend
die beiden ersten Jahre meines Verhältnisses mit C. N. - vorher freilich war
ich infolge mangelnden Interesses meiner Partnerin nicht gerade ergiebig. Erst
die Geißel hat mich mir selber als Liebhaber enthüllt.
Ich habe nie zweimal hintereinander, aber oft zweimal am Tage gekonnt. Und dazu
kamen so manche Schäkereien. Ein Nachlassen habe
ich erst vor drei, vielleicht vor vier Jahren gespürt - nein, es sind wohl doch
erst drei. Nimmt man all das zusammen, muß man wohl vermuten, daß ich eine solide
Konstitution hatte. Noch heute erledige ich all meine Gänge, den Hin- wie den
Rückweg, zu Fuß, ganz gleich, wie lang sie sind. Nur meine Sehkraft läßt nach.
Ich bin noch genauso, wie ich mit 20 Jahren war. - (
leau
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