ongress   »Stiefel!« . . . sag ich zu ihm, »Stiefel! Hochmut kommt vor dem Fall.« »Meister«, sagt er, »Meister! Ich bin kein gewöhnlicher Stiefelknecht!« »Das ist selbstverständlich. Ein Stiefelzieher, der in meinen Diensten steht, ist eo ipso mehr kein gewöhnlicher Stiefelzieher.« »Ich meint es nicht so.« »In deinen Fasern steckt Götterblut? Bist du eine verzauberte Prinzessin oder gar jener Stiefelzieher, den Zeus der Hera insinuierte?« »Das nicht, aber immerhin aus einer alten Familie. Wisse: ich stamm in gerader Linie von dem berühmten Stiefelzieher ab, den Mithridates verschluckte, um seinen Magen gegen alle Gifte zu feien.« »Der muß seinen Herrn genau so sekkiert haben wie du mich, daß er zu derer Verwendung gekommen ist.« Philipp verbat sich alle derartigen Anspielungen auf die Schicksale ebenso verdienstvoller wie erlauchter Ahnen. »Sonst kündig ich schonungslos. Ohnehin bin ich als Präsident in Aussicht genommen für den demnächst in Amerika stattfindenden I. Internationalen Stiefelzieherkongreß. Washington selbst . . .« »Washington?« »Ich mein den Stiefelzieher Washingtons. Wir nennen ihn Washington, der Kürze wegen ... er hat mich eingeladen zu präsidieren . . . eben wegen meiner Eigenschaft als Nachkomme eines berühmten . . . oder glaubst du, der Stiefelzieher des Herrn von Tubutsch . . .?« »Ja, wie kommst du denn nach Amerika, o Stiefelknecht meiner Seele?« »Mein Leib, mein schlechter Leib bleibt hier liegen, mein Geist schwingt sich auf, entfliegt, kriecht in einen Leitungsdraht und ist im Nu drüben.«  - Albert Ehrenstein, Tubutsch, nach  A.E.: Gedichte und Prosa. Neuwied u.a. 1961

Kongress (2)  Über dem Podium prangte eine bekränzte Tafel mit der Tagesordnung. Den ersten Punkt bildete die urbanistische Weltkatastrophe, den zweiten die ökologische, den dritten die atmosphärische, den vierten die energetische, den fünften die der Ernährung, dann sollte eine Pause folgen. Technologische, militaristische und politische Katastrophe sowie Anträge außer Programm waren für den nächsten Tag vorgesehen.

Jeder Redner hatte vier Minuten Zeit, um seine Thesen darzulegen. Das war ohnehin viel, wenn man bedenkt, daß 198 Referate aus 64 Staaten angemeldet waren. Um das Beratungstempo zu steigern, mußte jeder die Referate selbständig vor der Sitzung durchstudieren; der Vortragende aber sprach ausschließlich in Ziffern, die auf Kernstücke seiner Arbeit verwiesen. Um derlei reiche Sinngehalte leichter aufzunehmen, schalteten wir samt und sonders die mitgeführten Tonbandgeräte und Kleincomputer ein, welch letztere nachher die grundsätzliche Diskussion bestreiten sollten. Stanley Hazelton aus der Abordnung der USA schockierte sofort das Auditorium, denn er wiederholte nachdrücklich: 4, 6, 11 und somit 22; 5, 9, ergo 22; 3, 7,2,11 und demzufolge wiederum 22!!! Jemand erhob sich und rief, es gebe immerhin 5, allenfalls auch 6, 18 und 4; diesen Einwand wehrte Hazelton blitzartig ab: so oder so ergebe sich 22! Ich suchte im Text seines Referats den Codeschlüssel und entnahm ihm, daß die Zahl 22 die endgültige Katastrophe bezeichnete.   - Stanislaw Lem, Der futurologische Kongress. Frankfurt am Main 1996

Kongress (3)  Das  Verbrechen geschah im Hotel du Nord -jenem hohen Prisma, das die Flußmündung beherrscht, deren Wasser wüstenfarbig sind. In diesem Turm (der aufdringlich das scheußliche Weiß eines Sanatoriums, die numerierte Teilbarkeit eines Gefängnisses und den allgemeinen Anschein eines Bordells in sich vereinigt) traf am 3. Dezember der Delegierte aus Podolsk zum Dritten Talmudischen Kongreß ein. Dr. Marcel Yarmolinsky, ein Mann mit grauem Bart und grauen Augen. Wir werden nie wissen, ob ihm das Hotel du Nord gefiel: Er nahm es mit der uralten Resignation hin, die es ihm ermöglicht hatte, drei Jahre Krieg in den Karpaten zu erdulden und dreitausend Jahre der Unterdrückung und der Pogrome. Man gab ihm ein Zimmer im Stockwerk R, gegenüber der suite, die nicht ohne Pomp der Tetrarch von Galiläa bewohnte. Yarmolinsky aß zu Abend, verschob die Erforschung der unbekannten Stadt auf den nächsten Tag, verstaute seine vielen Bücher und die sehr wenigen Kleidungsstücke in einem placard und schaltete sein Licht noch vor Mitternacht aus. (Dies erklärte der chauffeur des Tetrarchen, der im Nebenzimmer schlief.) Am 4., um 11 Uhr und 3 Minuten vormittags, rief ihn ein Redakteur der ›Jiddischen Zaitung‹ an; Dr. Yarmolinsky antwortete nicht; man fand ihn in seinem Zimmer, schon mit einem dunklen Anflug im Gesicht, fast nackt unter einem unzeitgemäßen großen Umhang. Er lag nicht weit von der Tür entfernt, die auf den Korridor führte; ein tiefer Messerstich hatte ihm die Brust aufgerissen. Ein paar Stunden später, inmitten von Reportern, Fotografen und Polizisten, erörterten Kommissar Treviranus und Lönnrot im selben Zimmer in aller Ruhe den Fall.

»Da braucht man nicht mal bis drei zählen zu können«, sagte Treviranus und fuchtelte mit einer gewichtigen Zigarre. »Wir wissen alle, daß der Tetrarch von Galiläa die wertvollsten Saphire der Welt besitzt. Jemand wird wohl, als er sie stehlen wollte, aus Versehen hier eingedrungen sein. Yarmolinsky steht auf, und der Dieb muß ihn umbringen. Was halten Sie davon?«

»Möglich, aber nicht interessant«, antwortete Lönnrot. »Sie werden mir entgegnen, daß die Wirklichkeit nicht die geringste Verpflichtung hat, interessant zu sein. Ich werde dem entgegenhalten, daß zwar die Wirklichkeit sich dieser Verpflichtung entziehen kann, Hypothesen aber nicht. Bei der von Ihnen improvisierten ist zuviel Zufall im Spiel. Ich habe hier einen toten Rabbiner; ich würde eine rein rabbinische Erklärung vorziehen, nicht die imaginären Mißgeschicke eines imaginären Diebes.«  - Jorge Luis Borges, Der Tod und der Kompass. In (bo3)

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