Kommentatoren-Metamorphose    Jeder, der selbst kommentiert oder mit inständiger, fortschreitender Liebe irgendeinen Text gelesen oder mit lasterhafter Eintönigkeit frequentiert hat, weiß aus eigener Erfahrung, daß es einen Ort gibt, einen Augenblick, wo sich das so lange Zeit hindurch jüngerhafte Verhältnis zu diesem umkehrt. Aufgabe des Kommentators ist dann nicht mehr eine weitere Verbreiterung des Strahlenkranzes der Anmerkungen. Durch einen Vorgang, einen qualitativen salto mortale wird er in den Text hineingeschleudert, in seinen Mittelpunkt. Er wird dann gewahr, daß er den Punkt berührt hat, an welchem der Text durch seinen eigenen, einsamen Willen vorhanden ist und besteht; er anerkennt, daß der Text vor seinem Autor da war. Er entdeckt seine starre geometrische Hierarchie, er erkundet seinen Ort durch die Zahlenserie. Ins Zentrum gelangt, erleidet der Forscher eine glückhaft-katastrophale Metamorphose; seines Amtes ist es nicht mehr zu suchen; er hält in unpersönlichen Händen das gesamte Netz der Bedeutungen; diese aber ordnen sich nun nicht zu Summen, ergänzen sich nicht, noch verringern oder berichtigen sie sich; jede steht für sich und rings um die anderen, Schoß und Glied und Fötus.

Lang vor dem Erreichen dieses finster-auserwählten Ortes, verspürt der Kommentator nicht nur dessen Vorhandensein, sondern seine Wirksamkeit. Er weiß nicht mehr, ob er an den Schultern geschoben oder von vorne gelockt wird, ob der Boden sich unter seinen Füßen beschleunigt, ob sich nicht schließlich vor seiner Unbewegtheit ein tödliches Jubelfest entbietet und aufreißt; und er beginnt zu hoffen auf Zutritt, wähnt und fiebert sich schon als dort eingelassen, von wannen an er keinen Ausgang mehr finden wird.    - Giorgio Manganelli, Omegabet. Frankfurt am Main 1988 (zuerst 1969)

Kommentator Metamorphose

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