örperöffnung Von
allen menschlichen Körperöffnungen ist die Fontanelle die unscheinbarste, medizinisch
kaum der Rede wert, am schnellsten vergessen, am sichersten verdrängt — eine
Schwachstelle also im wahren Wortsinn, verletztlichster Teil des neugeborenen
Kindes, in alten Lexika auch fontanella infantum genannt. Der Name leitet
sich vom lateinischen fonticulus her: kleine Quelle oder auch kleiner
Brunnen. Gemeint ist ein viereckiger häutiger Zwischenraum zwischen den Stirn-
und Scheitelbeinen des kindlichen Schädels, die sogenannte Große Fontanelle.
Daneben gibt es vier kleinere Fontanellen, seitlich am Keilbein und im Bereich
der Labyrinthkapsel, immer dort, wo mehr als zwei Knochenflächen aneinandergrenzen
und sich gegeneinander verschieben wie Erdkrusten in tektonisch unruhigen Regionen
oder Packeisplatten am Pol. Durch ein leichtes Bindegewebe hindurch spüren Hebamme,
Arzt und Mutter jene Pulswelle, den rhythmischen Blutstrom der darunterliegenden
zerebralen Arterien, die der anatomisch vorübergehenden Erscheinung den bildhaften
Namen gegeben hat. Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres haben sich sämtliche
Lücken vollständig mit Knochenmasse gefüllt. Der Säuglingsschädel, noch immer
überproportional groß wegen des zunehmenden Hirnvolumens,
ist nun festgefügt. Nur die Kreuzungen von Stirn-und Pfeilnaht, von Pfeil- und
Lambdanaht erinnern noch an die früheren weichen, elastischen Stellen, an denen
sich Innen und Außen, Gehirn und Umwelt, osmotisch
am nächsten waren. Nachdem die Aushärtung abgeschlossen ist, tastet der Finger
vergeblich nach jener großen rhombischen Lücke im Schädeldach, die sich für
immer geschlossen hat und bald bedeckt sein wird mit dichtem Haar.
Zieht man in Betracht, wie flüchtig das Phänomen ist, wie gefährlich eine Blöße
an so zentralem Ort, läge es nahe, vom Rätsel der
Fontanelle zu sprechen, wüßte man nicht, daß ihre Funktion die eines elastischen
Ausgleichs im Moment der Geburt
ist, wenn der Kopf, hohem Druck ausgesetzt, sich durch den Geburtskanal schiebt.
Man stelle sich vor: von allen Körperpartien des Neugeborenen ist die am weitesten
entwickelte der Kopf, ein wahrer Auswuchs am Ende der
Wirbelsäule, fast schulterbreit. Der typische Schnappschuß hält den Embryo als
eine Art Kaulquappe fest, die pflänzchenfeinen Glieder um den mächtigen Ballon
des Kopfes gerollt. Doch das Problem, wie das Ei nachher durch den Flaschenhals
kommt, läßt sich nur durch einen anatomischen Trick lösen. Und noch später,
beim schnellen Wachstum des Schädeldachs in Anpassung an das progressive Hirnwachstum,
erweist die Fontanelle sich als ideale Hilfskonstruktion. Denn während die Schädelhöhle
eines fünfjährigen Kindes im Volumen schon fast der eines Erwachsenen gleicht,
bleibt der Gesichtsschädel noch lange auffällig klein. Es dauert einige Zeit,
bis die Ähnlichkeit mit Totenkopfäffchen, zerknautschten Handschuhen oder Fußbällen,
aus denen die Luft entwichen ist, aufhört. Es ist das wachsende Gehirn, das
die Deckknochen des kindlichen Schädels zur Ausdehnung zwingt. Denkt man sich
die Schädelkalotte als ein besonders tragfähiges Rundbogengewölbe, so kommt
Gefahr für die Statik hier nicht von außen, sondern von innen, durch den enormen
Wachstumsdruck. Nicht das expansive Gehirn, die Wucherung grauer Zellmassen,
muß geschützt und behütet werden, sondern der Knochen selbst, der noch zarte
Panzer aus sich ablagerndem Kalk. Dem so entstehenden Gehäuse, dünnwandig bis
zum Durchscheinen, fehlt anfangs noch jener schwammartige Fugenkitt, mit dem
die Knochentafeln zusammengehalten werden. Nur durch die kunstvolle Anordnung
von fünf größeren Schuppen mit Fontanellen und zackenförmigen Nähten (Suturen)
wird der mechanischen Dauerbeanspruchung begegnet. Die Formgebung aber geschieht
wie bei allen organischen Gebilden, Schnecke und Nautilus, Koralle und Auster,
von innen. Gleich im ersten Lebensjahr nimmt der Kopfumfang bei normaler Entwicklung
um etwa zwölf Zentimeter zu. Achtzig Prozent des Erwachsenenschädels sind nun
schon sichtbar. Der Eindruck des Unheimlichen, ein Effekt des Monsterfilms und
der Kuriositätenkabinette, drängt sich auf. -
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gr
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Körperöffnung (2)
Körperöffnungen (3)
- Fortunio Liceti
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